Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
mürrisch; dabei schaute sie auf die Straße hinunter. Das Zwielicht umstrahlte ihre Silhouette in feurigen Umrissen, brannte rotgolden in ihrem Haar, wurde diffus in der flauschigen Oberfläche des Wollrocks, den sie nachlässig um die Knie gezogen hatte.
»Vielleicht ist was schiefgegangen«, meinte Francis.
»Sei nicht albern. Was könnte denn schiefgehen?«
»Vielleicht hat Charles den Kopf verloren oder so was?«
Henry warf ihm einen giftigen Blick zu. »Beruhige dich«, sagte er. »Ich weiß nicht, woher du all diese Dostojewski-Ideen immer nimmst.«
Francis wollte etwas erwidern, als Camilla aufsprang. »Er kommt«, sagte sie.
Sie rannte ihm entgegen die Treppe hinunter, und nach wenigen Augenblicken waren sie beide wieder da.
Charles hatte einen wilden Blick, und sein Haar war zerzaust. Er zog seinen Mantel aus, warf ihn über einen Stuhl und ließ sich auf die Couch fallen. »Macht mir was zu trinken«, sagte er.
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Was ist passiert?«
»Wo bleibt mein Drink?«
Ungeduldig ließ Henry etwas Whiskey in ein schmutziges Glas plätschern und schob es zu ihm hinüber. »Ist es gutgegangen? Ist die Polizei gekommen?«
Charles nahm einen großen Schluck, verzog das Gesicht und nickte.
»Wo ist Cloke? Zu Hause?
»Vermutlich.«
»Jetzt erzähl schon. Alles. Von Anfang an.«
Charles trank sein Glas leer und stellte es hin. Seine Wangen waren fiebrig gerötet, und sein Gesicht war feucht. »Du hattest recht mit diesem Zimmer«, sagte er.
»Was meinst du damit?«
»Es war unheimlich. Das Bett ungemacht, überall Staub, eine alte, halb aufgegessene Waffel auf dem Schreibtisch, auf der die Ameisen herumkrabbelten. Cloke bekam Angst und wollte weg, aber ich rief Marion an, bevor er verschwinden konnte. Sie war ein paar Minuten später da. Sah sich um, wirkte irgendwie fassungslos, sagte nicht viel. Cloke war sehr aufgeregt.«
»Hat er ihr etwas von der Drogensache gesagt?«
»Nein. Andeutungen hat er gemacht, mehr als einmal, aber sie hat nicht auf ihn geachtet.« Er blickte auf. »Weißt du, Henry«, sagte er unvermittelt, »ich glaube, wir haben einen bösen Fehler gemacht, daß wir nicht zuerst hingegangen sind. Wir hätten uns selbst in dem Zimmer umsehen sollen, bevor es einer von ihnen zu sehen bekam.«
»Warum das?«
»Guck, was ich gefunden hab’.« Er holte ein Stück Papier aus der Tasche.
Henry nahm es ihm rasch ab und überflog es. »Wie hast du das gefunden?«
Charles zuckte die Achseln. »Glück. Es lag auf einem Schreibtisch. Ich hab’s bei der ersten Gelegenheit weggenommen.«
Ich schaute Henry über die Schulter. Es war die Fotokopie einer Seite aus dem Hampden Examiner. Neben einer abgeschnittenen Anzeige für Gartenhacken stand eine kleine, aber auffallende Schlagzeile.
GEHEIMNISVOLLER TODESFALL IN BATTENKILL COUNTY
Das Sheriff Department von Battenkill County und die Polizei von Hampden ermitteln noch immer im Fall des Henry Ray McRee, der am 12. November auf brutale Weise ermordet wurde. Der verstümmelte Leichnam Mr. McRees, eines Geflügelfarmers und ehemaligen Mitglieds des Verbandes der Eierproduzenten von Vermont, wurde auf dem Gelände seiner Farm in Mechanicsville aufgefunden. Raub scheint als Motiv nicht in Frage zu kommen, und auch wenn bekannt ist, daß Mr. McRee mehrere Feinde hatte, in der Hühnereierbranche wie auch in Battenkill County überhaupt, kommt keiner von ihnen als Tatverdächtiger in Frage.
Entsetzt beugte ich mich vor – das Wort »verstümmelt« hatte mich elektrisiert; ich sah sonst nichts auf der Seite. »Tja«, sagte Henry nach einer Weile, »ich nehme an, er hat das in der Bibliothek kopiert, wo die Zeitung ja ausliegt.«
»Aber das bedeutet nicht, daß es die einzige Kopie ist.«
Henry legte das Blatt in den Aschenbecher und riß ein Streichholz an. Als er die Flamme an die Kante hielt, kroch ein glühend
roter Rand über das Papier und leckte plötzlich über den ganzen Bogen; die Wörter waren für einen Augenblick beleuchtet, ehe sie sich kräuselten und schwärzten. »Na«, sagte er, »wenn nicht, können wir auch nichts machen. Wenigstens hast du diese hier geschnappt. Was ist dann passiert?«
»Na, Marion ist weggegangen, nach nebenan ins Putnam House, und mit einer Freundin zurückgekommen.«
»Mit wem?«
»Ich kenne sie nicht. Uta oder Ursula oder so. Eins von diesen schwedisch aussehenden Mädchen, die dauernd Fischerpullover anhaben. Jedenfalls, sie hat sich auch ein bißchen umgeguckt, und Cloke
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