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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Unterricht hinaus? ... Ohne einen Augenblick zu zögern, war Henry die Liste durchgegangen und hatte überall die Fünf mit einem Kreis markiert. Jetzt sah ich, wie er in eine freie Rubrik die Zahl 19 eintrug.
    »Was ist das?«
    »Die Anzahl der Kurse, die ich bei Julian belegt habe«, sagte er, ohne aufzublicken.
    »Du hast neunzehn Kurse bei Julian?«
    »Na ja, mit Tutorien und allem«, antwortete er gereizt.
    Einen Augenblick lang hörte man nichts außer dem Kratzen von Henrys Federhalter und dem fernen Getöse der Geschirrgestelle in der Küche.
    »Kriegt die jeder oder bloß wir?« fragte ich.
    »Bloß wir.«
    »Wieso machen sie sich dann überhaupt die Umstände?«
    »Für die Akten vermutlich.« Er war bei der letzten Seite angekommen, die beinahe leer war. Bitte notieren Sie hier ausführlich alles, was Ihnen sonst noch im Hinblick auf den Lehrer in positivem wie negativem Sinne bemerkenswert erscheint. Weitere Blätter können, falls nötig, beigefügt werden.
    Seine Feder schwebte unschlüssig über dem Papier. Dann faltete er den Bogen zusammen und schob ihn beiseite.
    »Was denn«, sagte ich, »willst du nichts hinschreiben?«
    Henry nahm einen Schluck Tee. »Wie, um alles in der Welt, könnte ich dem Studiendekan klarmachen, daß wir eine Gottheit in unserer Mitte haben?«
     
    Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer. Mir graute vor der kommenden Nacht, aber nicht, weil ich mir etwa Sorgen wegen der Polizei gemacht oder weil mich mein Gewissen belastet hätte, oder dergleichen. Ganz im Gegenteil. Inzwischen hatte ich ganz unwillkürlich eine erfolgreiche geistige Blockade gegen den Mord und alles, was damit zusammenhing, errichtet. Ich sprach mit bestimmten Leuten darüber, dachte aber selten daran, wenn ich allein war.
    Was ich hingegen erlebte, wenn ich allein war, war eine Art allgemeiner neurotischer Horror, war ein ganz gewöhnlicher, aber ins Monströse gesteigerter Anfall von Nervosität und Selbsthaß. Alle grausamen oder törichten Äußerungen, die ich je getan hatte, kehrten mit verstärkter Klarheit zurück, mochte ich noch so inständige Selbstgespräche führen oder mit dem Kopf rucken, um diese Gedanken zu vertreiben: alte Beleidigungen, Schuldhaftes und Peinliches selbst aus meinen frühesten Kindheitstagen – der verkrüppelte Junge, über den ich mich lustig gemacht hatte, das Osterküken, das ich totgequetscht hatte –, alles das zog wie in einer Parade an mir vorüber, eins nach dem andern, in lebhafter und ätzender Pracht.
    Ich versuchte Griechisch zu üben, allein vergeblich. Ich schlug ein Wort im Lexikon nach und hatte es schon wieder vergessen, wenn ich es hinschreiben wollte; meine Deklinationskenntnisse und die Verbformen hatten mich restlos im Stich gelassen. Gegen Mitternacht ging ich nach unten und rief die Zwillinge an. Camilla meldete sich; sie war schläfrig und betrunken und wollte gerade ins Bett gehen.
    »Erzähl mir eine komische Geschichte«, sagte ich.
    »Ich weiß keine komischen Geschichten.«
    »Dann irgendeine Geschichte.«
    »Aschenputtel? Die drei kleinen Bären?«
    »Erzähl mir etwas, das dir passiert ist, als du noch ganz klein warst.«
    Da erzählte sie mir von dem einzigen Mal, daß sie sich erinnerte, ihren Vater gesehen zu haben, bevor er und ihre Mutter verunglückten. Es habe geschneit, sagte sie; Charles habe geschlafen, und sie habe in ihrem Kinderbett gestanden und aus dem Fenster geschaut. Ihr Vater sei draußen im Garten gewesen, in einem alten grauen Pullover, und er habe Schneebälle gegen den Zaun geworfen. »Es muß mitten am Nachmittag gewesen sein. Ich weiß nicht, was er da machte. Ich weiß nur, daß ich ihn sah, und ich wollte so dringend raus, daß ich versuchte, aus meinem Bettchen zu klettern. Dann kam meine Großmutter herein und klappte das Gitter hoch, so daß ich nicht mehr rauskonnte, und ich fing an zu weinen. Mein Onkel Hilary – er war ein Bruder meiner Großmutter und wohnte bei uns, als wir klein waren – kam herein und sah, daß ich weinte. ›Armes kleines Mädchen‹, sagte er, und er wühlte in seiner Tasche herum und fand ein Maßband, und das gab er mir zum Spielen.«
    »Ein Maßband?«
    »Ja. Du weißt schon, eins von denen, die zurückschnappen, wenn man auf einen Knopf drückt. Charles und ich haben uns immer darum gezankt. Es ist heute noch irgendwo zu Hause.«
     
    Spät am nächsten Morgen erwachte ich mit jähem Schrecken, weil jemand an meine Tür klopfte.
    Als ich aufmachte, stand Camilla draußen;

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