Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
was Ihnen fehlt?«
Francis antwortete nicht. Er atmete schwer. Sein Blick war gesenkt, sein Gesicht glühte rosig.
»Ich bin kein Gedankenleser«, sagte der Arzt schließlich. »Aber wenn jemand in Ihrem Alter sagt, er habe einen Herzanfall, gibt es nach meiner Erfahrung zwei Möglichkeiten.«
»Welche?« fragte ich schließlich.
»Na ja. Amphetamin-Vergiftung ist die eine.«
»Ist es aber nicht«, sagte Francis und hob den Kopf.
»Okay, okay. Was es auch sein könnte, wäre ein Paniksyndrom.«
»Was ist das?« fragte ich und vermied es sorgfältig, Francis dabei anzusehen.
»So etwas wie Beklemmungszustände. Ein plötzlich auftretender Anfall von Angst. Herzklopfen. Zittern und Schwitzen. Das kann eine ganz ernste Sache sein. Die Leute denken oft, sie sterben.«
Francis sagte nichts.
»Nun?« sagte der Arzt. »Meinen Sie, das könnte es sein?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Francis nach einer verwirrten Pause.
Der Arzt lehnte sich rückwärts an das Waschbecken. »Haben Sie oft Angst?« fragte er. »Ohne daß Sie einen guten Grund dafür wüßten?«
Als wir das Krankenhaus verließen, war es Viertel nach drei. Francis zündete sich auf dem Parkplatz eine Zigarette an. In der linken Hand zerknüllte er einen Zettel, auf den der Arzt den Namen eines Psychiaters in der Stadt geschrieben hatte.
»Bist du sauer?« fragte er, als wir im Wagen saßen.
Es war das zweitemal, daß er mich das fragte. »Nein«, sagte ich.
»Ich weiß, daß du sauer bist.«
Die Straßen waren traumartig erleuchtet und menschenleer. Das Autoverdeck war offen. Wir fuhren an dunklen Häusern vorbei und bogen auf eine überdachte Brücke. Die Reifen dröhnten dumpf über die Holzbohlen.
»Bitte sei nicht sauer auf mich«, sagte Francis.
Ich ignorierte ihn. »Wirst du zu diesem Psychiater gehen?« fragte ich.
»Das würde nichts nützen. Ich weiß ja, was nicht stimmt.«
Ich sagte nichts. Bei dem Wort Psychiater war ich erschrocken. Ich war kein gläubiger Anhänger der Psychiatrie – aber wer wußte schon, was ein geübtes Auge in einem Persönlichkeitstest, einem Traum oder auch schon in einem Versprecher alles sehen würde?
»Ich habe als Kind eine Analyse gemacht.« Francis klang, als sei er den Tränen nahe. »Ich schätze, ich muß elf oder zwölf gewesen sein. Meine Mutter war auf ’nem Yoga-Trip; sie zerrte mich aus meiner alten Schule in Boston und verfrachtete mich in diesen furchtbaren Laden in der Schweiz. Das So-und-so-Institut. Alle trugen Sandalen und Socken. Es gab Kurse für Derwischtänze und Kabbala. Wer zur Weißen Ebene gehörte – so nannten sie meine Klasse oder Gruppe, oder was immer es war –, mußte jeden Morgen chinesisches Quigong machen und vier Stunden Reichsche Analyse pro Woche. Ich mußte sechs.«
»Wie macht man bei einem zwölfjährigen Jungen eine Analyse?«
»Massenhaft Wortassoziationen. Und gespenstische Spielchen, die sie einen mit anatomisch korrekten Puppen machen ließen. Sie hatten mich und zwei kleine Französinnen dabei erwischt, wie wir uns vom Gelände schleichen wollten – wir waren halb verhungert, makrobiotisches Essen, weißt du, und wir wollten nur zum bureau de tabac hinunter, um Schokolade zu kaufen, aber natürlich beharrten
sie darauf, daß es sich um einen sexuellen Zwischenfall gehandelt habe. Nicht, daß sie was dagegen hatten, aber sie hatten es gern, wenn man ihnen davon erzählte, und ich war zu ignorant, um ihnen den Gefallen zu tun. Die Mädchen wußten besser Bescheid, und sie hatten sich irgendeine wüste Franzosengeschichte ausgedacht, um dem Psychiater eine Freude zu machen – ménage à trois in einem Heuschober –, und du kannst dir nicht vorstellen, für wie krankhaft sie mich hielten, weil ich so etwas unterdrückte ... Obwohl ich ihnen erzählt hätte, was sie wollten, wenn ich gedacht hätte, sie würden mich dann nach Hause schicken.«
Wir fuhren um eine Kurve. Plötzlich erschien im Lichtkegel der Scheinwerfer ein großes Tier mitten auf der Fahrbahn. Ich trat hart auf die Bremse. Eine Sekunde lang schaute ich durch die Windschutzscheibe in ein Paar glühende Augen. Dann sprang das Tier blitzartig davon.
Ich hielt an, und wir saßen einen Moment lang schreckensstarr da.
»Was war das?« fragte Francis schließlich.
»Ich weiß nicht. Ein Reh vielleicht.«
»Das war kein Reh.«
»Dann ein Hund.«
»Für mich sah das aus wie eine Art Katze.«
In Wahrheit hatte es für mich auch so ausgesehen. »Aber es war zu groß«, sagte
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