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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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über dem Kamin stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ein wolkiger alter Spiegel in einem Rosenholzrahmen, nicht weiter bemerkenswert eigentlich; sie hatten ihn auf einem Trödel gekauft, aber er war das erste, was man erblickte, wenn man hereinkam, und jetzt war er noch auffälliger, weil er gesprungen war – zu einem dramatischen Stern zerborsten, der von der Mitte zu den Rändern ausstrahlte wie ein Spinnennetz. Wie es dazu gekommen war, war eine so komische Geschichte, daß Charles sie zweimal erzählen mußte; allerdings war seine schauspielerische Darstellung des Ereignisses das eigentlich Komische daran – Frühjahrsputz, Charles jämmerlich niesend von all dem Staub, und wie er sich schließlich von der Trittleiter geniest hatte und auf dem Spiegel gelandet war, der, gerade abgewaschen, noch auf dem Boden stand.
    »Was ich nicht verstehe«, sagte Henry, »ist, wie du ihn hast aufhängen können, ohne daß das Glas herausfällt.«
    »Das war auch fast ein Wunder. Aber jetzt fasse ich ihn nicht mehr an. Findet ihr nicht, daß es irgendwie wunderbar aussieht?«
    Es sah wirklich wunderbar aus, das war nicht zu bestreiten: das
fleckige, dunkle Glas, zersplittert wie ein Kaleidoskop, in dem das Zimmer sich hundertfach brach.
    Erst als es Zeit zum Gehen war, entdeckte ich ganz zufällig, wie der Spiegel wirklich zerbrochen worden war. Ich stand am Kamin, und meine Hand ruhte auf dem Sims, als mein Blick in die Feuerstelle fiel. Der Kamin funktionierte nicht; er hatte ein Funkengitter und einen Holzrost, aber die Scheite, die darauf lagen, waren pelzig von Staub. Als ich jetzt genauer hinschaute, sah ich dort unten noch etwas anderes: silbernes Funkeln, nadelblinkende Splitter von dem zerbrochenen Spiegel, vermischt mit den großen, unverwechselbaren Scherben eines goldgeränderten Highball-Glases, zwillingshaft dem ähnlich, das ich in der Hand hielt. Es waren schwere, alte Gläser mit zolldickem Boden. Das dort hatte jemand heftig und mit starkem Arm quer durch das Zimmer geworfen, heftig genug, um es zu zerbrechen und um den Spiegel zu zerschmettern, den Spiegel hinter meinem Kopf.
     
    Zwei Nächte später wurde ich wiederum von einem Klopfen an meiner Tür geweckt. Verwirrt und übellaunig, knipste ich die Nachttischlampe an und langte blinzelnd nach meiner Uhr. Es war drei. »Wer ist da?« rief ich.
    »Henry«, war die überraschende Antwort.
    Ich ließ ihn ein bißchen widerstrebend herein. Er setzte sich nicht. »Hör zu«, sagte er, »es tut mir leid, daß ich dich störe, aber es ist sehr wichtig. Ich muß dich um einen Gefallen bitten.«
    Er sprach schnell und geschäftsmäßig; sein Tonfall erschreckte mich. Ich setzte mich auf die Bettkante.
    »Hörst du zu?«
    »Was ist denn?«
    »Vor etwa fünfzehn Minuten bekam ich einen Anruf von der Polizei. Charles ist im Gefängnis. Er wurde wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet. Ich möchte, daß du hinfährst und ihn herausholst.«
    Ein Kribbeln stieg mir im Nacken herauf. »Was?«
    »Er war mit meinem Wagen unterwegs. Sie hatten meinen Namen aus den Papieren. Ich habe keine Ahnung, in was für einem Zustand er ist.« Er griff in die Tasche und reichte mir einen verschlossenen Umschlag. »Ich schätze, es wird etwas kosten, ihn herauszuholen; ich weiß nicht, wieviel.«
    Ich schaute in den Umschlag; ein Blankoscheck mit Henrys Unterschrift war darin, und dabei lag ein Zwanzigdollarschein.
    »Ich habe der Polizei schon gesagt, daß ich ihm das Auto geliehen habe«, sagte er. »Wenn es da noch Fragen gibt, sollen sie mich anrufen.« Er stand am Fenster und schaute hinaus. »Morgen früh spreche ich mit einem Anwalt. Du sollst ihn jetzt nur da herausholen, so schnell du kannst.«
    Ich brauchte ein, zwei Augenblicke, um das alles zu verdauen.
    »Was ist mit dem Geld?«« fragte ich schließlich.
    »Bezahl, was immer es kostet.«
    »Ich meine die zwanzig Dollar.«
    »Du wirst ein Taxi nehmen müssen. Ich bin mit einem hergekommen. Es wartet unten.«
    Es war lange still. Ich war immer noch nicht wach. In Unterhemd und Boxershorts saß ich auf der Bettkante.
    Während ich mich anzog, stand er am Fenster und schaute hinaus auf den dunklen Rasen, die Hände auf dem Rücken verschränkt; er achtete nicht auf das Scheppern der Kleiderbügel und auf mein täppisches, schlaftrunkenes Gewühle in den Kommodeschubladen - gelassen und gedankenversunken stand er da, anscheinend vertieft in seine eigenen abstrakten Angelegenheiten.
     
    Das Gefängnis von Hampden lag in

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