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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Flieder und dergleichen abgesehen, aber die Bäume schlugen jetzt buschiger aus als vorher, wie es schien: tief und dunkel war das Laub, so dicht, daß der Weg, der durch den Wald nach North Hampden führte, plötzlich sehr schmal war; grün drängte es zu beiden Seiten heran und verschluckte das Sonnenlicht auf dem feuchten, von Käfern wimmelnden Pfad.
    Am Montag kam ich ein bißchen zu früh ins Lyzeum; in Julians Büro fand ich die Fenster offen, und Henry ordnete Päonien in einer Vase. Er sah aus, als ob er zehn oder fünfzehn Pfund abgenommen hätte, was bei seiner Größe nichts ausmachte; trotzdem sah ich, wie schmal sein Gesicht und sogar seine Handgelenke und Hände waren. Aber es war nicht das, sondern etwas anderes, Undefinierbares, was ihn verändert hatte, seit ich ihn das letztemal gesehen hatte.
    Julian und er unterhielten sich – in scherzhaftem, spöttischem, pedantischem Latein – wie zwei Priester, die vor der Messe die Sakristei aufräumten. Der dunkle Duft von frisch aufgebrühtem Tee hing schwer in der Luft.
    Henry blickte auf. »Salve, amice «, sagte er, und eine feine Lebhaftigkeit flackerte in seinen starren Zügen auf, die sonst so verschlossen, so distanziert wirkten. »Valesne? Quid est rei ?«
    »Du siehst gut aus«, sagte ich, und es stimmte.
    Er neigte leicht den Kopf. Seine Augen, die während seiner Krankheit trüb und verschwommen ausgesehen hatten, waren jetzt von klarstem Blau.
    »Benigne dicis «, sagte er. »Ich fühle mich auch viel besser.«
    Julian räumte die Reste von Brötchen und Marmelade fort – er und Henry hatten zusammen gefrühstückt, und recht üppig, wie es aussah –, und er lachte und sagte etwas, was ich nicht ganz verstand - irgendein horazisch klingendes Epigramm des Inhalts, daß Fleisch gut sei für die Trauer. Er wirkte wieder so strahlend und heiter wie früher. Er hatte Bunny in fast unerklärlicher Weise gern gehabt, aber starke Emotionen waren ihm ein Graus, und eine nach modernen Maßstäben normale Zurschaustellung von Gefühlen wäre ihm exhibitionistisch und ein wenig schockierend vorgekommen: Ich war ziemlich sicher, daß dieser Tod ihn stärker berührt hatte, als er erkennen ließ. Dann wiederum hatte ich den Verdacht, daß Julians fröhliche, sokratische Gleichgültigkeit gegen Fragen von Leben und Tod ihn davor bewahrte, über irgend etwas allzu lange traurig zu sein.
    Francis kam, und dann auch Camilla; Charles nicht – er lag wahrscheinlich mit einem Kater im Bett. Wir alle setzten uns an den großen runden Tisch.
    »Und nun«, sagte Julian, als es still geworden war, »sind wir hoffentlich alle bereit, die Welt der Phänomene zu verlassen und ins Sublime einzudringen.«
     
    Jetzt, so schien es, waren wir in Sicherheit; eine große Finsternis war von meiner Seele gewichen. Die Welt war ein frischer, wunderbarer Ort, grün und kräftigend und völlig neu. Ich unternahm oft lange Spaziergänge zum Battenkill River hinunter, ganz allein. Besonders gern ging ich in den kleinen ländlichen Lebensmittelladen in North Hampden (die steinalten Besitzer, Mutter und Sohn, hatten angeblich die Inspiration zu einer berühmten, häufig in Anthologien vertretenen Horrorstory aus den fünfziger Jahren geliefert), um mir dort eine Flasche Wein zu kaufen und dann zum Fluß hinunterzuwandern, wo ich sie austrank, und dann durchstreifte ich betrunken diese prachtvollen, goldenen, lodernden Nachmittage, bis es Abend wurde: reine Zeitverschwendung natürlich. Ich war in Rückstand geraten; ich hatte Seminararbeiten zu verfassen, und Examen dräuten am Horizont; aber noch war ich jung, das Gras war grün und die Luft schwer vom Summen der Bienen, und ich war soeben vom Rande des Todes zurückgekehrt, zurück zu Sonne und Luft. Jetzt war ich frei, und mein Leben, das ich schon verlorengegeben hatte, erstreckte sich unbeschreiblich kostbar und süß vor mir.
    An einem dieser Nachmittage spazierte ich auf dem Rückweg an
Henrys Haus vorbei und fand ihn hinten im Garten, wo er ein Blumenbeet umgrub. Er hatte seine Gärtnersachen an – eine alte Hose, und die Hemdsärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt -, und in der Schubkarre waren Tomatenpflanzen, Gurken, Basilikum, Erdbeersetzlinge, Sonnenblumen und scharlachrote Geranien. Drei oder vier Rosenbüsche mit juteumwickelten Wurzelballen lehnten am Zaun.
    Ich ging durch das Seitentor hinein. Ich war wirklich ziemlich betrunken. »Hallo«, sagte ich. »Hallo, hallo, hallo.«
    Er hielt inne und

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