Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
einem Anbau des Gerichtsgebäudes. Es war das einzige Gebäude am ganzen Platz, in dem zu dieser Nachtzeit Licht brannte. Ich ließ den Taxifahrer warten und ging hinein.
Zwei Polizisten saßen in einem großen, gutbeleuchteten Raum. Zahlreiche Aktenschränke standen da, und Stahlschreibtische hinter Trennwänden, ein altmodischer Trinkwasserkühler, ein Automat mit Kaugummikugeln, aufgestellt vom Civitan Club (»Wenn Sie sich ändern, ändert das alles«). Einen der Polizisten – einen Typ mit rotem Schnurrbart – erkannte ich von der Suchaktion her wieder. Die beiden aßen ein Brathähnchen, wie sie im Supermarkt unter Heizstrahlern liegen, und sahen sich »Sally Jessy Raphael« in einem tragbaren Schwarzweißfernseher an.
»Hallo«, sagte ich.
Sie blickten auf.
»Ich wollte fragen, ob ich meinen Freund aus dem Gefängnis holen kann.«
Der mit dem roten Schnurrbart wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. Er war groß und sah nett aus; ich schätzte, daß er um die Dreißig war. »Das ist Charles Macaulay, möchte ich wetten«, sagte er.
Es klang, als sei Charles ein alter Freund von ihm. Vielleicht war er das auch. Charles hatte eine Menge Zeit hier unten verbracht, als die Sache mit Bunny gelaufen war. Die Cops, hatte er gesagt, waren nett zu ihm gewesen; sie hatten Sandwiches kommen lassen und ihm Coke aus dem Automaten spendiert.
»Sie sind nicht der, mit dem ich telefoniert habe«, sagte der andere. Er war groß und entspannt, etwa vierzig, mit grauem Haar und einem Froschmaul. »Ist das Ihr Auto da draußen?«
Ich erklärte ihnen die Situation. Sie aßen ihr Hähnchen und hörten zu, große, freundliche Kerle mit großen .38er Polizeirevolvern an den Hüften. Die Wände waren mit Behördenplakaten bedeckt: KAMPF DEN GEBURTSSCHÄDEN, STELLEN SIE EINEN VETERANEN EIN, POSTDIEBSTÄHLE MELDEN!
»Tja, wissen Sie, wir können Ihnen den Wagen nicht übergeben«, sagte der Polizist mit dem roten Schnurrbart. »Mr. Winter wird schon selbst herkommen und ihn abholen müssen.«
»Das Auto ist mir egal. Ich möchte nur gern meinen Freund aus dem Gefängnis holen.«
Der andere Polizist sah auf die Uhr. »Na«, sagte er, »dann kommen Sie mal in sechs Stunden wieder.«
War das ein Witz? »Ich habe das Geld«, sagte ich.
»Wir können keine Kaution festsetzen. Das macht der Richter, wenn er die Anklage erhebt. Punkt neun Uhr.«
Anklage ? Ich bekam Herzklopfen. Was, zum Teufel, sollte das heißen? Die Cops schauten mich milde an, als wollten sie sagen: »War’s das?«
»Können Sie mir sagen, was passiert ist?« fragte ich.
»Was?«
Meine eigene Stimme klang flach und fremd. »Was genau hat er gemacht?«
»Wurde von einer Verkehrsstreife draußen auf der Deep Kill Road angehalten«, sagte der grauhaarige Polizist. Wie er es sagte, klang es, als lese er es vor. »Stand offensichtlich unter Alkoholeinfluß. War mit einem Alkotest einverstanden, und der verlief positiv. Die Streife hat ihn hergebracht, und wir haben ihn eingesperrt. Das war gegen zwei Uhr fünfundzwanzig heute morgen.«
Die Sache war mir immer noch nicht klar, aber ich wußte beim besten Willen nicht, welches die richtigen Fragen waren. Schließlich sagte ich: »Kann ich ihn sehen?«
»Es geht ihm prima, mein Junge«, sagte der mit dem roten Schnurrbart. »Gleich morgen früh können Sie ihn sehen.«
Beide lächelten sehr freundlich. Es gab nichts weiter zu sagen. Ich bedankte mich und ging.
Als ich herauskam, war das Taxi weg. Ich hatte noch fünfzehn Dollar von Henrys Zwanziger, aber um ein neues Taxi zu rufen, hätte ich noch einmal ins Gefängnis gehen müssen, und das wollte ich nicht. Also ging ich zu Fuß die Main Street hinunter bis zum südlichen Ende, wo vor einem Imbiß ein Münztelefon hing. Es funktionierte nicht.
So müde, daß ich fast träumte, ging ich zurück zum Platz – vorbei an der Post, vorbei am Haushaltswarengeschäft, vorbei am Kino mit seiner ausgestorbenen Eingangsfront unter der Markise: Schaufensterscheiben, rissige Gehwegplatten, Sterne. Bergkatzen pirschten in einem Relieffries über der städtischen Bücherei. Lange ging ich so, bis die Geschäfte allmählich weniger wurden und die Straße dunkler war, ging am düster singenden Rand des Highways entlang, bis ich zur Greyhound-Busstation kam, die traurig im Mondschein lag: das erste, was ich je von Hampden gesehen hatte. Der Busbahnhof war geschlossen. Ich setzte mich draußen auf eine Holzbank unter einer gelben Glühbirne und wartete, daß
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