Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
ich.
»Vielleicht war es ein Puma oder so was.«
»Die gibt’s hier nicht.«
»Gab’s aber. Man nannte sie Catamounts. Cat-of-the-Mountain. Wie die Catamount Street in der Stadt.«
Der Nachtwind war kalt. Irgendwo bellte ein Hund. Es war nicht viel Verkehr auf den nächtlichen Straßen.
Ich fuhr weiter.
Francis hatte mich gebeten, niemandem von unserem Ausflug zur Notaufnahme zu erzählen, aber als ich am Sonntag abend bei den Zwillingen zu Hause ein bißchen zuviel getrunken hatte, berichtete ich Charles nach dem Essen in der Küche unversehens die ganze Geschichte.
Charles zeigte sich mitfühlend. Er hatte selbst getrunken, wenn auch nicht so viel wie ich. Er trug einen alten Baumwollkrepp-Anzug, der sehr lose an ihm herunterhing – er hatte ebenfalls ein bißchen abgenommen – und eine zerfranste alte Sulka-Krawatte.
»Der arme François «, sagte er. »Er ist so meschugge. Wird er denn zu dem Psychiater gehen?«
»Ich weiß es nicht.«
Er schüttelte eine Zigarette aus der Packung Lucky Strike, die Henry auf der Theke hatte liegenlassen. »Ich an deiner Stelle«, sagte er, und er klopfte mit der Zigarette auf die Innenseite seines Handgelenks und reckte den Hals, um sich zu vergewissern, daß niemand in der Diele war, »ich an deiner Stelle würde ihm raten, Henry gegenüber nichts davon zu erwähnen.«
Ich wartete, daß er weiterredete. Er zündete die Zigarette an und blies eine Rauchwolke von sich.
»Ich meine, ich trinke in letzter Zeit ein bißchen mehr, als ich sollte«, sagte er leise. »Ich bin der erste, der das zugibt. Aber, mein Gott, ich war auch derjenige, der sich mit den Cops herumschlagen mußte, nicht er. Ich bin derjenige, der Marion auf dem Hals hat, um Himmels willen. Sie ruft mich fast jeden Abend an. Soll er doch mal versuchen, eine Zeitlang mit ihr zu reden; mal sehen, wie er sich dann fühlt ... Wenn ich täglich eine ganze Flasche Whiskey trinken wollte – ich wüßte nicht, was er dazu zu sagen hätte. Ich habe ihm gesagt, es geht ihn nichts an. Und was du tust, geht ihn auch nichts an.«
»Ich?«
Er sah mich mit verständnislosem Kinderblick an. Dann lachte er.
»Oh, du hast es noch nicht gehört?« sagte er. »Jetzt bist du es auch. Trinkst zuviel. Streunst am hellichten Tag betrunken herum. Bist auf die schiefe Bahn geraten.«
Ich war verblüfft. Er lachte wieder, als er meinen Gesichtsausdruck sah, aber dann hörten wir Schritte und das Klingen von Eis in einem Cocktailglas – Francis. Er steckte den Kopf durch die Tür und fing an, gut gelaunt über irgend etwas zu plappern. Nach ein paar Minuten nahmen wir unsere Gläser und gingen mit ihm ins Wohnzimmer.
Es war ein behaglicher Abend, ein glücklicher Abend: Lampenschein, Gläserfunkeln, Regen, der schwer auf das Dach prasselte. Die Baumwipfel draußen bogen und schüttelten sich mit schäumendem Rauschen; es klang wie ein Club-Soda, das im Glas aufsprudelt. Die Fenster waren offen, und ein feuchtkühler Wind wirbelte durch die Gardinen, behexend wild und süß.
Henry war in ausgezeichneter Stimmung. Entspannt saß er in
einem Sessel, die Beine von sich gestreckt; er war frisch und ausgeruht und rasch bei der Hand mit einem Lachen oder einer schlagfertigen Antwort. Camilla sah bezaubernd aus. Sie trug ein schmalgeschnittenes, ärmelloses Kleid in Lachsrosa, das ein Paar hübsche Schlüsselbeine und die süßen, zerbrechlichen Wirbel in ihrem Nacken sehen ließ – und entzückende Kniescheiben, entzückende Knöchel, entzückende nackte, muskulöse Beine. Das Kleid betonte ihre karge Figur, die unbewußte, leicht maskuline Anmut ihrer Haltung; ich liebte sie, liebte die köstliche Art, wie sie mit den Wimpern schlug, wenn sie eine Geschichte erzählte, oder wie sie (ein leises Echo von Charles) eine Zigarette hielt, eingeklemmt zwischen den Knöcheln ihrer Finger mit den zerbissenen Nägeln.
Sie und Charles hatten sich anscheinend wieder versöhnt. Sie sprachen nicht viel miteinander, aber das alte wortlose Band der Zwillingsschaft war wieder an seinem Platz. Einer saß beim anderen auf der Armlehne, und sie trugen Drinks hin und her (ein eigenartiges Zwillingsritual, komplex und bedeutungsgeladen). Obgleich ich diese Beobachtungen nicht restlos zu deuten wußte, waren sie doch meistens ein Zeichen dafür, daß alles in Ordnung war. Irgendwie schien sie dabei die Versöhnlichere von beiden zu sein, was anscheinend die Hypothese widerlegte, daß er der schuldige Teil gewesen war.
Der Spiegel
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