Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
selbstsüchtigen, bösen Taten, die sie im Grunde gewesen waren.
»Richard «, sagte Julian in einem Ton, der mich willkommen hieß und mir gleichzeitig zu verstehen gab, daß ich zu einer ungünstigen Zeit gekommen sei.
»Ist Henry da? Ich muß etwas mit ihm besprechen.«
Er machte ein überraschtes Gesicht. »Natürlich«, sagte er und hielt mir die Tür auf.
Henry saß an dem Tisch, an dem wir unseren Griechischunterricht abhielten. Julians leerer Stuhl an der Fensterseite stand dicht neben seinem. Es lagen noch andere Papiere auf dem Tisch, aber vorn war der Brief. Henry blickte auf. Er war anscheinend nicht erfreut, mich zu sehen.
»Henry, kann ich dich sprechen?«
»Natürlich«, sagte er kühl.
Ich drehte mich um und wollte in den Gang hinaustreten, aber er traf keine Anstalten, mir zu folgen. Er mied meinen Blick. Zum Teufel mit ihm, dachte ich. Er glaubte, ich wollte unser Gespräch aus dem Garten fortsetzen.
»Könntest du für einen Augenblick herkommen?« sagte ich.
»Was ist denn?«
»Ich muß dir etwas sagen.«
Er zog eine Braue hoch. »Du meinst, du willst mir etwas unter vier Augen sagen?«
Ich hätte ihn umbringen können. Julian hatte höflich so getan, als achte er nicht auf unseren Wortwechsel, aber jetzt erwachte doch seine Neugier. Er blieb abwartend hinter seinem Stuhl stehen. »Ach du meine Güte«, sagte er. »Ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes. Soll ich hinausgehen?«
»Aber nein, Julian«, sagte Henry, und dabei sah er nicht Julian, sondern mich an. »Lassen Sie nur.«
»Ist alles in Ordnung?« fragte Julian mich.
»Ja, ja«, sagte ich. »Ich muß Henry nur einen Moment sprechen. Es ist ziemlich wichtig.«
»Hat es nicht Zeit?« fragte Henry.
Der Brief lag ausgebreitet auf dem Tisch. Entsetzt sah ich, daß er die einzelnen Seiten langsam umblätterte, wie ein Buch, und so tat, als betrachte er sie nacheinander aufmerksam. Er hatte den Briefkopf noch nicht gesehen. Er wußte nicht, daß er da war.
»Henry«, sagte ich, »es ist ein Notfall. Ich muß dich sofort sprechen.«
Mein drängender Ton ließ ihn aufhorchen. Er hielt inne und wandte sich auf dem Stuhl um – jetzt starrten sie mich beide an –, und im Zuge dieser Bewegung drehte er das Blatt um, das er in der Hand hatte. Mein Herz schlug einen Salto. Da lag der Briefkopf aufgedeckt auf dem Tisch. Ein weißer Palast in blauen Schnörkeln.
»Also gut«, sagte Henry, und zu Julian gewandt fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie. Wir sind gleich wieder da.«
»Gewiß«, sagte Julian. Er machte ein ernstes und besorgtes Gesicht. »Ich hoffe, es ist nichts passiert.«
Ich hätte am liebsten losgeheult. Jetzt hatte ich Henrys Aufmerksamkeit. Ich hatte sie, aber ich wollte sie nicht mehr. Der Briefkopf lag offen auf dem Tisch.
»Was ist denn?« Henry schaute mir in die Augen.
Er war wachsam und angespannt wie ein Kater. Julian schaute mich ebenfalls an. Der Brief lag zwischen ihnen auf dem Tisch, geradewegs in Julians Blickrichtung. Er brauchte nur den Kopf zu senken.
Ich warf einen schnellen Blick auf den Brief und sah wieder Henry an. Er verstand sofort, drehte sich um, geschmeidig und schnell, aber nicht schnell genug, und in diesem Sekundenbruchteil senkte Julian den Blick – beiläufig, nur weil es ihm gerade einfiel, aber eben eine Sekunde zu früh.
Ich denke nicht gern an die Stille, die nun folgte. Julian beugte sich vor und betrachtete den Briefkopf lange Zeit. Dann nahm er das Blatt in die Hand und studierte es. Excelsior. Via Veneto. Blau getuschte Schloßmauern. Ich fühlte mich seltsam leicht und leer im Kopf.
Julian setzte die Brille auf und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Er las das ganze Ding durch, sehr aufmerksam, von Anfang bis Ende. Ich hörte Kinder lachen, leise, irgendwo draußen. Endlich faltete er den Brief zusammen und schob ihn in seine Innentasche.
»So«, sagte er. »So, so, so.«
Wie fast immer im Leben, wenn etwas Schlimmes beginnt, hatte ich mich auf diese Möglichkeit eigentlich nicht vorbereitet. Und was ich jetzt empfand, als ich dastand, war nicht Angst oder Reue, sondern nur eine furchtbare, zermalmende Demütigung, eine grauenvolle, rotglühende Scham, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr verspürt hatte. Und noch schlimmer war es, Henry zu sehen und zu wissen, daß er das gleiche empfand, allenfalls noch schneidender als ich. Ich haßte ihn – war so wütend, daß ich ihn umbringen wollte –, aber irgendwie war ich nicht darauf vorbereitet, ihn so zu
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