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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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nicht darum, daß Ihr Julian es vorzieht, sich ausschließlich auf bestimmte exaltierte Dinge zu konzentrieren, sondern darum, daß er es vorzieht, andere, ebenso wichtige, zu ignorieren.«
    Es ist komisch. In den ersten Entwürfen zu diesen Erinnerungen habe ich mich gegen die Tendenz gewehrt, Julian zu sentimentalisieren, ihn als Heiligen erscheinen zu lassen – und ihn damit im Prinzip zu fälschen –, um unsere Verehrung für ihn erklärlicher zu machen: kurz, um den Eindruck zu erwecken, daß es sich um mehr handelte als um meine fatale Neigung dazu, interessante Leute zu guten Leuten zu machen. Und ich weiß, daß ich anfangs gesagt habe, er sei vollkommen gewesen, aber er war nicht vollkommen, ganz im Gegenteil, er konnte albern und eitel und abwesend und oft grausam sein, und wir liebten ihn immer noch, trotzdem, deshalb.
     
    Charles kam am Tag darauf aus dem Krankenhaus. Zwar bestand Francis darauf, daß er für eine Weile zu ihm ziehe, aber Charles wollte unbedingt in seine eigene Wohnung zurück. Seine Wangen waren eingefallen, er hatte stark abgenommen, und er hatte einen Haarschnitt nötig. Er war mürrisch und deprimiert. Wir erzählten ihm nicht, was passiert war.
    Francis tat mir leid. Ich sah, daß er sich Sorgen um Charles machte und daß er beunruhigt war, weil dieser so feindselig und verschlossen war. »Willst du was essen?« fragte er ihn.
    »Nein.«
    »Komm schon. Wir gehen in die Brasserie.«
    »Ich hab’ keinen Hunger.«
    »Es ist bestimmt gut. Ich spendiere dir eine von diesen Bisquitrouladen, die du so gern zum Nachtisch ißt.«
    Also gingen wir in die Brasserie. Es war elf Uhr vormittags. Durch einen unglücklichen Zufall setzte uns der Kellner an den Fenstertisch, an dem Francis und ich keine vierundzwanzig Stunden zuvor mit Julian gesessen hatten. Charles wollte die Speisekarte nicht sehen. Er bestellte zwei Bloody Marys und trank sie schnell hintereinander. Dann bestellte er eine dritte.
    Francis und ich ließen die Gabeln sinken und wechselten einen unbehaglichen Blick.
    »Charles«, sagte Francis, »wieso nimmst du nicht ein Omelett oder so was?«
    »Ich habe doch gesagt, ich habe keinen Hunger.«
    Francis nahm die Speisekarte und überflog sie rasch. Dann winkte er dem Kellner.
    »Ich sage, ich habe keinen Hunger, verdammt noch mal «, sagte Charles, ohne aufzublicken. Er hatte große Mühe, seine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger festzuhalten.
    Danach hatte niemand mehr viel zu sagen. Wir aßen zu Ende und ließen uns die Rechnung geben – aber bis dahin hatte Charles seine dritte Bloody Mary getrunken und die vierte bestellt. Wir mußten ihm ins Auto helfen.
     
    Ich freute mich nicht besonders auf den Griechischunterricht, aber als es Montag geworden war, stand ich doch auf und ging hin. Henry und Camilla kamen einzeln – für den Fall, daß Charles sich entschließen würde aufzukreuzen, denke ich. Was er, gottlob, nicht tat. Ich sah, daß Henrys Gesicht verquollen und sehr bleich war. Er starrte zum Fenster hinaus und ignorierte Francis und mich.
    Camilla war nervös; vielleicht machte Henrys Benehmen sie verlegen. Sie brannte darauf, von Charles zu hören, und stellte eine Reihe von Fragen, aber auf die meisten bekam sie überhaupt keine Antwort. Bald wurde es zehn nach, dann Viertel nach.
    »Ich habe noch nie erlebt, daß Julian so spät kam«, sagte Camilla und sah auf die Uhr.
    Plötzlich räusperte Henry sich. Seine Stimme klang fremd und rostig, als sei sie lange nicht benutzt worden. »Er kommt nicht«, sagte er.
    Wir drehten uns um und sahen ihn an.
    »Was?« sagte Francis.
    »Ich glaube nicht, daß er heute kommt.«
    In diesem Augenblick hörten wir Schritte, und es klopfte an der Tür. Es war nicht Julian, sondern der Studiendekan. Er öffnete die knarrende Tür und spähte herein.
    »So, so«, sagte er. Er war ein verschlagener, schütterer Mann von Anfang Fünfzig, der in dem Ruf stand, ein Klugscheißer zu sein. »So also sieht das Innere Heiligtum aus. Das Allerheiligste. Ich habe nie heraufkommen dürfen.«
    Wir schauten ihn an.
    »Nicht schlecht«, sagte er versonnen. »Ich weiß noch, vor ungefähr fünfzehn Jahren, bevor das neue Gebäude der Naturwissenschaften fertig war, da mußten ein paar der Berater hier oben
untergebracht werden. Da war eine Psychologin dabei, die immer gern ihre Tür offenstehen ließ, weil sie meinte, das vermittle ein freundliches Gefühl. ›Guten Morgen‹, sagte sie zu Julian, wann immer er an ihrer Tür

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