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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Frau mittleren Alters im Golfkleid vor mir stand. »Entschuldigung«, sagte sie, »suchen Sie jemanden?«
    Komisch, dachte ich, während ich die letzte Treppe hinaufrannte, aber ich hatte irgendwie geahnt, daß sie ganz oben sein würden. Im Korridor begegnete ich einer hageren Frau um die sechzig – mit bedrucktem Kleid, Harlekinbrille und einem scharfen, unangenehmen Pudelgesicht –, die einen Stapel gefalteter Handtücher trug. »Halt!« japste sie. »Wo wollen Sie hin?«
    Aber ich war schon an ihr vorbei den Gang entlanggelaufen und hämmerte an die Tür von 3-A. »Camilla!« schrie ich. »Richard hier! Laß mich rein!«
    Und dann stand sie da wie ein Wunder. Die Sonne schien hinter ihr durch die Tür in den Gang, und sie war barfuß und blinzelte. »Hallo«, sagte sie. »Hallo! Was machst du hier?« Und hinter mir hörte ich die Frau des Hoteliers: »Was glauben Sie, was Sie hier machen? Wer sind Sie?«
    »Es ist in Ordnung«, sagte Camilla.
    Ich war außer Atem. »Laß mich rein«, keuchte ich.
    Sie zog die Tür zu. Es war ein wunderschönes Zimmer – Eichenholztäfelung, Kamin und im Nachbarzimmer nur ein Bett, wie ich sah, das Bettzeug am Fußende zusammengeknüllt ... »Ist Henry hier?« fragte ich.
    »Was ist denn passiert?« Runde rote Flecken glühten hoch auf ihren Wangen. »Es ist Charles, nicht wahr? Was ist passiert?«
    Charles. Den hatte ich ganz vergessen. Ich rang nach Luft. »Nein«, sagte ich. »Ich hab’ keine Zeit, es dir zu erklären. Wir müssen Henry finden. Wo ist er?«
    »Warum« – sie sah auf die Uhr –, »ich glaube, er ist bei Julian im Büro.«
    »Bei Julian ?«
    »Ja. Was ist denn?« fragte sie, als sie die Verblüffung in meinem Gesicht sah. »Er war mit ihm verabredet – ich glaube um zwei.«
     
    Ich hastete nach unten, um Francis zu holen, bevor der Hotelier und seine Frau sich über das Erlebte einigen konnten.
    »Was machen wir jetzt?« fragte Francis auf der Fahrt zurück zur Schule. »Draußen auf ihn warten?«
    »Ich habe Angst, daß wir ihn dann verlieren. Ich glaube, es ist besser, wenn einer von uns hochläuft und ihn holt.«
    Francis zündete sich eine Zigarette an. »Vielleicht ist alles okay«, sagte er. »Vielleicht hat Henry das Ding schon.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich, aber ich dachte das gleiche wie er. Wenn Henry den Briefkopf sähe, würde er höchstwahrscheinlich auch versuchen, ihn zu klauen, und höchstwahrscheinlich würde er sich besser darauf verstehen als Francis oder ich. Außerdem – es klang kleinlich, aber es war wahr: Henry war Julians Liebling. Wenn er es darauf anlegte, würde er ihm den ganzen Brief abschwatzen können: unter dem Vorwand, ihn der Polizei zu geben, die Schrift analysieren zu lassen – der Himmel wußte, was er sich würde einfallen lassen.
    Francis warf mir einen Seitenblick zu. »Wenn Julian es herausfände - was, glaubst du, würde er tun?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich, und ich wußte es wirklich nicht. Es war eine derart undenkbare Aussicht, daß die einzige Reaktion, die ich mir bei ihm vorstellen konnte, melodramatisch und unwahrscheinlich war: Julian, wie er einen tödlichen Herzanfall erlitt, Julian, wie er hemmungslos weinte, ein gebrochener Mann.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er uns anzeigen würde.«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Das könnte er nicht. Er liebt uns.«
    Ich sagte nichts. Ungeachtet dessen, was Julian für mich empfand, war nicht zu leugnen, daß das, was ich ihm entgegenbrachte, echte Liebe und Vertrauen war. Während meine Eltern sich mehr und mehr von mir entfernt hatten – ein Rückzug, den sie schon seit vielen Jahren betrieben –, hatte Julian sich zur einzigen Gestalt väterlichen Wohlwollens in meinem Leben entwickelt – oder überhaupt jeglicher Art von Wohlwollen. Für mich war es, als sei er mein einziger Beschützer auf der Welt.
    »Es war ein Fehler«, sagte Francis. »Er muß das verstehen.«
    »Vielleicht«, sagte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er es herausfand, aber wenn ich versuchte, mir vorzustellen, daß ich diese Katastrophe jemandem erklärte, erkannte ich, daß wir es Julian sehr viel leichter würden erklären können als irgend jemandem sonst. Vielleicht, dachte ich, würde er ähnlich reagieren wie ich. Vielleicht würde er diese Morde als traurige, wilde Sache sehen, spukhaft und pittoresk (»Ich habe alles gemacht«, pflegte der alte Tolstoi sich zu brüsten, »ich habe sogar einen Mann getötet«), und nicht als die

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