Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
offenkundig. Aber wenn er den Briefkopf sähe, wäre das Spiel aus, denn er wußte so gut wie wir, daß Bunny und Henry zwei Wochen im Excelsior gewohnt hatten. Wir konnten nur darauf hoffen, daß er ihn einfach wegwerfen würde, ohne ihn noch jemandem zu zeigen oder selbst eingehender zu untersuchen. Aber Julian liebte Intrigen und Geheimnisse, und über eine solche Geschichte konnte er tagelang spekulieren. Ich mußte immer daran denken, daß er davon gesprochen hatte, den Brief dem Dekan zu zeigen. Wir mußten ihn irgendwie in unsere Hände bringen. Vielleicht in sein Büro einbrechen. Aber selbst angenommen, er hatte ihn dagelassen, an einem Ort, wo wir ihn finden könnten, hieß das immer noch, daß wir sechs oder sieben Stunden warten müßten.
Ich trank ziemlich viel beim Essen, aber als wir fertig waren, war ich immer noch so nervös, daß ich zum Nachtisch Brandy statt Kaffee nahm. Zweimal verdrückte Francis sich, um zu telefonieren. Ich wußte, daß er versuchte, Henry zu erreichen, um ihn zu bitten, ins Büro hinüberzueilen und den Brief zu entwenden, während wir Julian in der Brasserie festhielten; ich sah aber auch an seinem angespannten Lächeln bei seiner Rückkehr, daß er kein Glück gehabt hatte.
In der gespannten Stille auf der Rückfahrt zur Schule merkte ich plötzlich, wie sehr wir uns immer darauf verlassen hatten, miteinander kommunizieren zu können, wann immer wir wollten. Immer hatten wir uns bis jetzt im Notfall alles auf griechisch sagen können, verkleidet als Aphorismus oder Zitat. Aber das war jetzt unmöglich.
Julian lud uns nicht ein, oben noch einen Kaffee mit ihm zu trinken. Wir sahen ihm nach, wie er den Weg hinaufging, und winkten, als er sich im Eingang des Lyzeums noch einmal umdrehte. Jetzt war es ungefähr halb zwei nachmittags.
Als er verschwunden war, saßen wir eine Weile bewegungslos im Wagen. Francis’ freundliches Abschiedslächeln war auf seinem Gesicht erstorben. Plötzlich, und mit einer Wut, die mich erschreckte, warf er sich nach vorn und schlug mit der Stirn auf das Lenkrad. »Scheiße!« schrie er. »Scheiße! Scheiße!«
Ich packte ihn beim Arm und schüttelte ihn. »Hör auf«, sagte ich.
»Oh, Scheiße!« heulte er, ließ den Kopf in den Nacken rollen und preßte die Handballen an die Schläfen. »Scheiße. Das war’s, Richard.«
»Halt den Mund.«
»Es ist aus. Wir sind erledigt. Wir gehen in den Knast.«
»Halt den Mund«, sagte ich noch einmal. Seine Panik hatte mich merkwürdigerweise ernüchtert. »Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt machen.«
»Hör mal«, sagte Francis, »laß uns einfach abhauen. Wenn wir jetzt losfahren, können wir in Montreal sein, wenn es dunkel wird. Niemand wird uns je finden.«
»Du redest Unsinn.«
»Wir bleiben zwei Tage in Montreal und verkaufen den Wagen. Dann nehmen wir den Bus – was weiß ich, wohin – Saskatchewan oder so was. Wir fahren an den verrücktesten Ort, den wir finden können.«
»Francis, beruhige dich. Für eine Minute wenigstens. Ich glaube, wir werden damit fertig.«
»Was sollen wir denn machen? «
»Na, als erstes, denke ich, müssen wir Henry finden.«
»Henry?« Er starrte mich erstaunt an. »Wie kommst du auf die Idee, daß er helfen kann? Der ist so durchgeknallt, daß er gar nicht mehr weiß, in welche Richtung ...«
»Hat er nicht einen Schlüssel zu Julians Büro?«
Er war einen Moment lang still. »Ja«, sagte er dann. »Ja, ich glaube, er hat einen. Er hatte ihn jedenfalls.«
»Also«, sagte ich. »Dann suchen wir jetzt Henry und fahren mit ihm her. Er kann Julian unter irgendeinem Vorwand aus dem Büro locken. Und dann kann sich einer von uns mit dem Schlüssel über die Hintertreppe hinaufschleichen.«
Es war ein guter Plan. Das Problem war nur, daß es nicht so leicht war, Henry aufzustöbern, wie wir gehofft hatten. Er war nicht in seiner Wohnung, und als wir am Albemarle vorbeifuhren, stand sein Auto dort auch nicht.
Wir fuhren zurück zum Campus, um in der Bibliothek nachzusehen, und dann noch einmal zurück zum Albemarle. Diesmal stiegen Francis und ich aus und gingen um das Grundstück herum.
Das Albemarle war im 19. Jahrhundert erbaut worden, als Sanatorium für reiche Leute. Es war schattig und luxuriös, mit hohen Blendläden und einer weitläufigen, kühlen Veranda – jeder, von Rudyard Kipling bis F. D. Roosevelt, hatte hier mal gewohnt –, aber es war kaum größer als ein großes Privathaus.
»Hast du es schon an der Rezeption
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