Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
versucht?« fragte ich Francis.
»Kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen. Die haben sich unter falschem Namen eingetragen, und ich bin sicher, Henry hat der Chefin irgendeine Geschichte erzählt, denn als ich neulich abends versuchte, mit ihr zu reden, wurde sie nach einer Sekunde schweigsam wie ein Grab.«
»Gibt es eine Möglichkeit reinzukommen, ohne durch die Lobby zu gehen?«
»Keine Ahnung. Meine Mutter und Chris sind mal hier abgestiegen. So groß ist der Laden nicht. Es gibt nur eine Treppe, soweit ich weiß, und um da hinzukommen, mußt du an der Rezeption vorbei.«
»Und im Parterre?«
»Nein, ich glaube, sie sind in einem oberen Stockwerk. Camilla hat irgendwas davon gesagt, das Gepäck nach oben zu bringen. Kann sein, daß es eine Feuertreppe gibt, aber ich wüßte nicht, wie man die finden soll.«
Wir traten auf die Veranda. Durch die Glastür sahen wir eine dunkle, kühle Lobby und hinter der Rezeption einen Mann von etwa sechzig Jahren, die halbmondförmigen Brillengläser tief unten auf der Nase, während er in einer Nummer des Bennington Banner las.
»Ist das der Typ, mit dem du gesprochen hast?« flüsterte ich.
»Nein. Das war seine Frau.«
»Hat er dich schon mal gesehen?«
»Nein.«
Ich stieß die Tür auf, schob den Kopf kurz hindurch und trat dann ein. Der Hotelier blickte von seiner Zeitung auf und musterte uns herablassend von Kopf bis Fuß. Er war einer dieser pinselhaften Pensionäre, die man in New England häufig sieht – Typen, die Antiquitätenmagazine abonnieren und mit Segeltuchtaschen
herumlaufen, wie man sie im Privatfernsehen als Prämie geschenkt kriegt.
Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln. Hinter der Rezeption, sah ich, hing ein Schlüsselbrett mit lauter Zimmerschlüsseln. Sie waren, den Stockwerken entsprechend, reihenweise angeordnet. Drei Schlüssel – 2-B, 2-C und 2-E – fehlten im zweiten Stock und nur einer – 3-A – im dritten.
Er sah uns frostig an. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »aber wissen Sie, ob unsere Eltern schon aus Kalifornien angekommen sind?«
Jetzt war er überrascht. Er klappte ein Buch auf. »Wie ist der Name?«
»Rayburn. Mr. und Mrs. Cloke Rayburn.«
»Ich habe hier keine Reservierung.«
»Ich weiß nicht genau, ob sie reserviert haben.«
Er schaute mich über seine Brillengläser hinweg an. »Normalerweise verlangen wir eine Reservierung plus Anzahlung mindestens achtundvierzig Stunden im voraus.«
»Sie haben wohl gedacht, um diese Jahreszeit brauchen sie keine.«
»Tja, dann gibt es keine Garantie, daß sie ein Zimmer haben können, wenn sie kommen«, sagte er knapp.
Gern hätte ich darauf hingewiesen, daß diese Herberge mehr als halb leer sei und daß man nicht gerade erkennen könne, wie die Gäste sich prügelten, um hereinzukommen, aber statt dessen lächelte ich wieder und sagte: »Ich schätze, dann müssen sie es einfach drauf ankommen lassen. Ihr Flugzeug ist mittags in Albany gelandet. Sie müßten jeden Augenblick hier sein.«
»Schön, dann ...«
»Haben Sie was dagegen, wenn wir warten?«
Er hatte, ganz offensichtlich. Aber das konnte er nicht sagen. Er nickte mit geschürzten Lippen – und dachte ohne Zweifel schon an den Vortrag über Reservierungsgepflogenheiten, den er meinen Eltern halten würde –, und mit ostentativem Geraschel widmete er sich wieder seiner Zeitung.
Wir setzten uns auf ein beengtes viktorianisches Sofa, möglichst weit weg von der Rezeption.
Francis war zappelig und drehte sich immer wieder um. »Ich will hier nicht bleiben«, wisperte er, fast ohne die Lippen zu bewegen, dicht an meinem Ohr. »Ich habe Angst, die Frau kommt zurück.«
»Der Typ ist aus der Hölle, was?«
»Sie ist noch schlimmer.«
Der Hotelier schaute äußerst pointiert nicht in unsere Richtung, ja, er wandte uns sogar den Rücken zu. Ich legte Francis die Hand auf den Arm. »Ich bin gleich wieder da«, flüsterte ich. »Sag ihm, ich suche die Herrentoilette.«
Die Treppe war mit einem Teppich belegt, und ich konnte fast geräuschlos hinauflaufen. Ich hastete den Korridor hinunter, bis ich 2-C und daneben 2-B sah. Die Türen wirkten ausdruckslos und düster, aber zum Zögern war keine Zeit. Ich klopften an 2-C. Keine Antwort. Ich klopfte noch einmal, lauter diesmal. »Camilla!« rief ich.
Daraufhin fing ein kleiner Hund an zu randalieren, weiter unten in 2-E. Egal, dachte ich und wollte gerade zum drittenmal klopfen, als die Tür aufging und eine
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