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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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    Niemand sagte etwas. Stäubchen schwebten in einem Sonnenstrahl. Ich dachte an Camilla im Albemarle, an Charles im Krankenhaus, an Francis, der vertrauensvoll im Auto wartete.
    »Julian«, sagte Henry. »Ich kann das erklären.«
    »Bitte«, sagte Julian.
    Seine Stimme ging mir eisig bis ins Mark. Zwar waren ihm und Henry eine spürbare Kälte im Benehmen gemeinsam – manchmal war es fast, als sinken die Temperatur in ihrer Umgebung –, aber ich hatte Henrys Kälte immer als eingefleischte Eigenschaft seines Wesens empfunden, Julians hingegen wie ein Furnier, das eine im Grunde warmherzige und gütige Natur überzog. Aber als ich Julian jetzt ansah, war das Zwinkern in seinen Augen mechanisch und leblos. Es war, als sei der bezaubernde Theatervorhang gefallen, und ich sah ihn zum erstenmal, wie er wirklich war: nicht der gütige alte Weise, der nachsichtige, beschützende Pate meiner Träume, sondern ein Mensch mit vielen Gesichtern und ohne moralische Prinzipien, dessen betörende Staffage ein Wesen verhüllte, das wachsam, launisch und herzlos war.
    Henry fing an zu reden. Es tat so weh, ihn zu hören – Henry! –, wie er über seine Worte stolperte, daß ich, wie ich fürchte, vieles von dem, was er sagte, gar nicht erst aufnahm. Er begann auf typische Weise, indem er versuchte, sich zu rechtfertigen, aber dieser Versuch scheiterte rasch im grellweißen Licht von Julians Schweigen. Dann – mich schaudert immer noch, wenn ich daran denke – kroch ein verzweifelter, bettelnder Unterton in seine Stimme. »Es mißfiel mir natürlich, daß ich lügen mußte« – es »mißfiel« mir! Als redete er von einer häßlichen Krawatte, einer langweiligen Dinnerparty! –, »wir wollten Sie ja nie belügen, aber es war nötig. Das heißt, ich hatte das Gefühl, es war nötig. Die erste Sache war ein Unfall; es hatte doch keinen Sinn, Sie damit zu
belasten, oder? Und dann, bei Bunny ... er war nicht mehr glücklich in diesen letzten paar Monaten. Das wissen Sie sicher. Er hatte eine Menge persönliche Probleme, Probleme mit seiner Familie  ...«
    Er redete und redete. Julians Schweigen war unermeßlich, arktisch. Ein düsteres Summen hallte in meinem Kopf. Ich halte das nicht aus, dachte ich, ich muß weg hier, aber Henry redete immer noch, und ich stand immer noch da und fühlte mich immer kränker und düsterer, als ich Henrys Stimme hörte und diesen Ausdruck in Julians Gesicht sah.
    Als ich es schließlich nicht mehr ertragen konnte, wandte ich mich zum Gehen. Julian sah es.
    Unvermittelt schnitt er Henry das Wort ab. »Das genügt«, sagte er.
    Eine schreckliche Pause trat ein. Ich starrte ihn an. Das war’s, dachte ich, von fasziniertem Grauen erfüllt. Er will nicht mehr zuhören. Er will nicht mit ihm allein gelassen werden.
    Julian griff in die Tasche. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Er zog den Brief heraus und gab ihn Henry. »Ich glaube, das behalten Sie besser«, sagte er.
    Er stand nicht auf. Henry und ich verließen ohne ein Wort sein Büro. Komisch, wenn ich jetzt daran denke. Es war das letztemal, daß ich ihn gesehen habe.
    Henry und ich sprachen auch im Korridor nicht. Langsam ließen wir uns hinaustreiben, den Blick abgewandt, wie zwei Fremde. Als ich die Treppe hinunterging, stand er oben am Fenster und schaute hinaus, blind und blicklos.
     
    Francis geriet in Panik, als er mein Gesicht sah. »O nein«, sagte er. »O mein Gott. Was ist passiert?«
    Es verging eine ganze Weile, bevor ich etwas sagen konnte. »Julian hat ihn gesehen«, sagte ich schließlich.
    »Was ?«
    »Er hat den Briefkopf gesehen. Henry hat ihn jetzt.«
    »Wie hat er ihn gekriegt?«
    »Julian hat ihn ihm gegeben.«
    Francis jubelte. »Er hat ihn ihm gegeben? Er hat Henry den Brief gegeben?«
    »Ja.«
    »Und er wird niemandem etwas sagen?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    Die Düsternis in meiner Stimme erschreckte ihn.
    »Aber was ist denn noch?« fragte er schrill. »Ihr habt ihn doch, oder? Es ist okay. Alles okay jetzt. Oder?«
    Ich starrte durch das Autofenster zum Fenster von Julians Büro hinauf.
    »Nein«, sagte ich. »Das glaube ich eigentlich nicht.«
     
    Vor Jahren habe ich in ein altes Notizbuch geschrieben: »Eine von Julians angenehmsten Eigenschaften ist seine Unfähigkeit, irgend jemanden – oder etwas – in seinem wahren Licht zu sehen.« Und darunter, mit anderer Tinte: »Vielleicht auch eine meiner angenehmsten Eigenschaften (?).«
    Es war immer schwer für mich, über Julian zu

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