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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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reden, ohne ihn romantisch zu verklären. In vieler Hinsicht habe ich ihn von allen am meisten geliebt; und bei ihm ist die Versuchung für mich am größten, ihn auszuschmücken, neu zu erfinden, ihm prinzipiell zu vergeben. Ich glaube, das liegt daran, daß Julian selbst unablässig dabei war, die Leute und Ereignisse in seiner Umgebung neu zu erfinden und Gutes, Weises, Tapferes, Bezauberndes in Handlungen zu legen, die nichts dergleichen enthielten. Das war einer der Gründe, weshalb ich ihn liebte: um des schmeichelhaften Lichtes willen, in dem er mich sah, um des Menschen willen, der ich war, wenn ich bei ihm war, um all dessentwillen, was er mir zu sein erlaubte.
    Jetzt wäre es natürlich ein leichtes für mich, ins andere Extrem umzuschwenken. Ich könnte sagen, das Geheimnis seines Charmes habe darin gelegen, daß er sich an junge Leute hängte, die das Gefühl haben wollten, besser zu sein als jedermann sonst; er habe die seltsame Gabe gehabt, Minderwertigkeitsgefühle zu Überlegenheit und Arroganz zu verdrehen. Ich könnte auch sagen, er habe dies nicht aus altruistischen Beweggründen getan, sondern aus Selbstsucht – um irgendeinen eigenen egozentrischen Impuls zu befriedigen. Und ich könnte das alles recht ausführlich und, wie ich glaube, angemessen zutreffend darlegen. Aber das würde dennoch nicht erklären, worin der fundamentale Zauber seiner Persönlichkeit bestand oder weshalb ich – sogar im Lichte der folgenden Ereignisse – immer noch den überwältigenden Wunsch verspüre, ihn so zu sehen, wie ich ihn beim erstenmal sah: als weisen alten Mann, der mir auf einem trostlosen Stück Weges aus dem Nichts erschien und mir das verhexende Angebot machte, alle meine Träume wahr werden zu lassen.
    Aber selbst im Märchen sind diese gütigen alten Herren mit ihren faszinierenden Angeboten nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Das dürfte für mich inzwischen keine besonders schwer zu akzeptierende Wahrheit mehr sein, aber aus irgendeinem Grunde ist es das doch. Mehr als alles andere wünschte ich mir, ich könnte sagen, Julians Gesicht sei zerfallen, als er hörte, was wir getan hatten. Ich wünschte, ich könnte sagen, er habe den Kopf auf den Tisch sinken lassen und geweint, geweint um Bunny, geweint um uns, geweint um die falschen Wege und das vergeudete Leben: geweint um sich selbst, weil er so blind gewesen war, weil er sich wieder und wieder geweigert hatte zu sehen.
    Und die Sache ist die, daß ich mich sehr versucht gefühlt habe, zu sagen, er habe es getan, obwohl es überhaupt nicht stimmt.
    George Orwell – ein scharfer Beobachter dessen, was sich hinter dem Flitter konstruierter Fassaden, gesellschaftlicher und anderer, verbarg – war Julian mehrmals begegnet und hatte ihn nicht leiden können. Einem Freund schrieb er: »Wenn man Julian Morrow begegnet, hat man den Eindruck, er sei ein Mann von außergewöhnlicher Einfühlsamkeit und Wärme. Aber was Sie seine ›asiatische Heiterkeit‹ nennen, ist, glaube ich, die Maske vor einer großen Kälte. Das Gesicht, das man ihm zeigt, spiegelt er unweigerlich wider, und so schafft er die Illusion von Wärme und Tiefe, wo er in Wirklichkeit spröde und flach ist wie ein Spiegel. Acton« – anscheinend Harold Acton, der damals ebenfalls in Paris und mit Orwell wie mit Julian befreundet war – »ist anderer Meinung. Aber ich glaube, dem Mann ist nicht zu trauen.«
    Ich habe viel über diese Stelle nachgedacht, und auch über eine besonders scharfsinnige Bemerkung, die ausgerechnet Bunny einmal machte. »Weißt du«, sagte er, »Julian ist wie einer, der alle seine Lieblingspralinen aus der Schachtel frißt und den Rest übrigläßt.« Das hört sich auf Anhieb ziemlich rätselhaft an, aber tatsächlich fällt mir keine bessere Metapher für Julians Persönlichkeit ein. Eine ähnliche Bemerkung hat Georges Laforgue mir gegenüber einmal gemacht, als ich Julian gerade in den Himmel gepriesen hatte. »Julian«, sagte er knapp, »wird nie ein Wissenschaftler allererster Güte sein, und zwar deshalb, weil er die Dinge nur auf einer selektiven Basis sehen kann.«
    Als ich – eifrig – widersprach und fragte, was daran auszusetzen sei, daß einer seine gesamte Aufmerksamkeit auf nur zwei Dinge konzentriere, nämlich auf Kunst und Schönheit, antwortete Laforgue: »An der Liebe zur Schönheit ist nichts auszusetzen. Aber
Schönheit ist – sofern sie nicht mit etwas Sinnvollerem vermählt ist – immer nur oberflächlich. Es geht

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