Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
ist schon okay.«
»Du warst sehr lieb zu ihm.«
»Er war mein Freund.«
»Francis«, sagte Camilla, »hat Charles Geld geliehen, damit er in eine Therapie gehen konnte. Eine Klinik. Aber da ist er nur ungefähr eine Woche geblieben. Dann ist er mit einer dreißigjährigen Frau weggelaufen, die er in der Entziehungsstation kennengelernt hatte. Ungefähr zwei Monate lang hat niemand etwas von ihnen gehört. Schließlich hat der Ehemann der Frau ...«
»Die war verheiratet?«
»Ja. Hatte auch ein Baby. Einen Jungen. Jedenfalls, der Mann dieser Frau hat dann einen Privatdetektiv engagiert, und der hat sie in San Antonio aufgestöbert. Sie wohnten in einer heruntergekommenen Bude, einem Dreckloch. Charles arbeitete als Tellerwäscher in einer Imbißbude, und sie ... na, ich weiß nicht, was sie machte. Sie waren beide in ziemlich übler Verfassung. Aber sie wollten beide nicht nach Hause kommen. Sie seien sehr glücklich, sagten sie.«
Sie schwieg und nahm einen Schluck von ihrem Drink.
»Und?« fragte ich.
»Sie sind immer noch da«, sagte sie. »Da unten in Texas. Eine
Zeitlang waren sie in Corpus Christi. Zuletzt haben wir gehört, sie seien nach Galveston gezogen.«
»Ruft er denn nie an?«
Es trat eine lange Pause ein. Schließlich sagte sie: »Charles und ich sprechen eigentlich nicht mehr miteinander.«
»Überhaupt nicht?«
»Eigentlich nicht, nein.« Sie nahm wieder einen Schluck Whiskey. »Meiner Nana hat es das Herz gebrochen.«
In der regnerischen Dämmerung gingen wir durch die Public Gardens zurück zu Francis’ Apartment. Die Straßenlaternen brannten.
Ganz plötzlich sagte Francis: »Wißt ihr, ich denke dauernd, gleich kreuzt Henry auf.«
Das verstörte mich ein bißchen. Ich hatte es zwar nicht gesagt, aber es ging mir genauso. Und mehr noch: Seit meiner Ankunft in Boston passierte es immer wieder, daß ich einen Blick auf jemanden erhaschte und dachte, es sei er: dunkle Gestalten, die im Taxi vorbeisausten oder in Bürohäusern verschwanden.
»Wißt ihr, ich glaubte ihn zu sehen, als ich da in der Badewanne lag«, sagte Francis. »Der Hahn tropfte, und die ganze verdammte Bude war voll Blut. Ich dachte, ich sehe ihn da stehen in seinem Bademantel – ihr wißt schon, der mit den Taschen, in denen er seine Zigaretten und all das aufbewahrte –, drüben am Fenster, halb abgewandt, und dann sagt er ganz angewidert zu mir: ›Na, Francis, hoffentlich bist du jetzt zufrieden.‹«
Wir gingen weiter, und niemand sagte etwas.
»Es ist komisch«, sagte Francis, »aber es fällt mir schwer, zu glauben, daß er wirklich tot ist. Ich meine – ich weiß, daß er seinen Tod unmöglich vorgetäuscht haben kann – aber, wißt ihr, wenn jemand einen Weg finden könnte, um zurückzukommen, dann er. Es ist ein bißchen wie bei Sherlock Holmes. Der Sturz in den Reichenbach-Wasserfall. Ich rechne dauernd damit, zu erfahren, daß es alles nur ein Trick war. Daß er jeden Tag auftaucht und irgendeine verzwickte Erklärung für alles hat.«
Wir überquerten eine Brücke. Gelbe Bänder vom Laternenlicht funkelten hell auf dem tintenschwarzen Wasser.
»Vielleicht hast du ihn wirklich gesehen«, sagte ich.
»Wie meinst du das?«
»Ich dachte auch schon, ich sehe ihn«, sagte ich nach einer langen nachdenklichen Pause. »In meinem Zimmer. Als ich im Krankenhaus war.«
»Na, du weißt ja, was Julian sagen würde«, sagte Francis. »So was wie Geister gibt es. Das haben die Menschen überall schon immer gewußt. Und wir glauben daran, genauso, wie Homer es tat. Nur nennen wir sie heute anders. Erinnerungen. Das Unbewußte.«
»Hättet ihr was dagegen, das Thema zu wechseln?« fragte Camilla ganz plötzlich. »Bitte?«
Camilla mußte am Freitag morgen abreisen. Ihre Großmutter sei nicht gesund, sagte sie; sie müsse zurück. Ich brauchte erst in der folgenden Woche wieder in Kalifornien zu sein.
Als ich mit ihr auf dem Bahnsteig stand – sie tappte ungeduldig mit dem Fuß und beugte sich immer wieder vor, um an den Gleisen entlangzuspähen –, war mir, als könnte ich nicht ertragen, sie jetzt wieder wegfahren zu sehen. Francis war um die Ecke verschwunden, um ihr ein Buch für unterwegs zu kaufen.
»Ich möchte nicht, daß du wegfährst«, sagte ich.
»Ich möchte es auch nicht.«
»Dann tu’s nicht.«
»Ich muß.«
Wir standen da und schauten einander an. Es regnete. Sie sah mich an mit ihren regenfarbenen Augen.
»Camilla, ich liebe dich«, sagte ich. »Laß uns
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