Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
heiraten.«
Sie antwortete eine Ewigkeit lang nicht. Schließlich sagte sie: »Richard, du weißt, das ich das nicht kann.«
»Warum nicht?«
»Ich kann nicht. Ich kann nicht einfach meine Sachen packen und nach Kalifornien gehen. Meine Großmutter ist alt. Sie kommt allein nicht mehr zurecht. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert.«
»Vergiß Kalifornien. Ich komme wieder in den Osten.«
»Richard, das kannst du nicht. Was ist mit deiner Dissertation? Mit deinem Studium?«
»Das ist mir egal.«
Lange standen wir da und schauten einander in die Augen. Dann blickte sie weg.
»Du müßtest sehen, wie ich jetzt lebe, Richard«, sagte sie. »Meine Nana ist in schlechter Verfassung. Es erfordert meine ganze Kraft, sie zu versorgen und das große Haus dazu. Ich habe keinen einzigen Freund in meinem Alter. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letztemal ein Buch gelesen habe.«
»Ich könnte dir helfen.«
»Ich will nicht, daß du mir hilfst.« Sie hob den Kopf und sah mich an; ihr Blick durchfuhr mich scharf und süß wie eine Morphiumspritze.
»Ich falle auf die Knie, wenn du willst«, sagte ich. »Wirklich, das tue ich.«
Sie schloß die Augen – dunkle Lider, dunkle Schatten darunter; sie war wirklich älter, nicht mehr das Mädchen mit dem silbernen Blick, in das ich mich verliebt hatte, aber deshalb nicht weniger schön, schön auf eine Weise jetzt, die nicht so sehr meine Sinne erregte, als mir vielmehr das Herz zerriß.
»Ich kann dich nicht heiraten«, sagte sie.
»Warum nicht?«
Ich dachte, sie werde sagen: »Weil ich dich nicht liebe. « Das wäre wahrscheinlich mehr oder weniger die Wahrheit gewesen. Aber statt dessen sagte sie zu meiner Überraschung: »Weil ich Henry liebe.«
»Henry ist tot.«
»Ich kann’s nicht ändern. Ich liebe ihn trotzdem.«
»Ich habe ihn auch geliebt.«
Einen Augenblick lang glaubte ich zu spüren, daß sie wankte. Aber dann wandte sie den Blick ab.
»Das weiß ich«, sagte sie. »Aber es ist nicht genug.«
Der Regen blieb auf dem ganzen Weg nach Kalifornien bei mir. Ich wußte, eine abrupte Abreise hätte ich nicht ertragen; wenn ich den Osten überhaupt verlassen sollte, dann mußte es allmählich geschehen; also mietete ich mir ein Auto und fuhr und fuhr, bis die Landschaft sich schließlich veränderte und ich im Mittelwesten war, und dann war der Regen alles, was mir von Camillas Abschiedskuß noch geblieben war. Regentropfen auf der Frontscheibe, Radiosender, die kamen und schwanden. Maisfelder, trist in all diesen grauen, weit offenen Ebenen. Ich hatte ihr schon einmal Lebewohl gesagt, aber es erforderte meine ganze Kraft, um ihr jetzt noch einmal Lebewohl zu sagen, zum letzten Mal: hinc illae lacrimae. Daher die Tränen.
Vermutlich bleibt nun nichts weiter übrig, als Ihnen noch zu berichten, was aus den übrigen Mitspielern in unserer Geschichte geworden ist, soweit ich es weiß.
Cloke Rayburn studierte erstaunlicherweise Jura. Heute ist er Anwalt bei Milbank Tweed in New York, zuständig für Fusionen
und Akquisitionen, und interessanterweise ist Hugh Corcoran kürzlich Partner in dieser Firma geworden. Es heißt, Hugh habe ihm den Job verschafft. Vielleicht stimmt es, vielleicht nicht; aber ich denke, es stimmt, denn es ist so gut wie sicher, daß Cloke sich nicht besonders ausgezeichnet hat, wo immer er studiert haben mag. Er wohnt nicht weit von Francis und Priscilla, Ecke Lexington und Einundachtzigste (Francis soll dort übrigens ein unglaubliches Apartment haben; Priscillas Dad, der im Immobiliengeschäft tätig ist, hat es ihnen zur Hochzeit geschenkt), und Francis, der immer noch Schlafstörungen hat, sagt, daß er ihn manchmal frühmorgens in dem koreanischen Laden trifft, wo sie beide ihre Zigaretten kaufen.
Judy Poovey ist inzwischen so was wie eine kleine Berühmtheit. Als ausgebildete Aerobic-Lehrerin erscheint sie regelmäßig – mit einem Schwarm weiterer wohlbemuskelter Schönheiten – in einer Trainingssendung – »Power Moves!« – im Kabelfernsehen.
Nach der Schule taten Frank und Judd sich zusammen und kauften das »Farmer’s Inn«, das sich seitdem zum bevorzugten Treffpunkt von Hampden entwickelt hat. Angeblich machen sie großartige Geschäfte. Eine Menge alter Bewohner von Hampden arbeiten für sie, darunter Jack Teitelbaum und Rooney Wynne; so stand es wenigstens vor kurzem in einem Artikel in der Ehemaligenzeitung.
Jemand hat mir erzählt, Bram Guernsey sei bei den Ledernakken, aber das
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