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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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von Blut.
    »Na, mach weiter«, sagte Camilla mit ziemlich fester Stimme.
    »Ich kann es nicht. Ich hab’ Angst, dir weh zu tun.«
    »Es tut sowieso weh.«
    »Ich kann nicht«, sagte Charles kläglich und schaute sie an.
    »Geh aus dem Weg«, sagte Henry ungeduldig; er kniete sich rasch nieder und nahm ihren Fuß in die Hand.
    Charles wandte sich ab; er war fast so bleich wie seine Schwester.
    Camilla zuckte zusammen und riß die Augen weit auf. Henry hielt die krumme Glasscherbe mit einer blutigen Hand in die Höhe. »Consummatum est«, verkündete er.
    Francis machte sich mit Jod und Verbandsmull ans Werk.
    »Mein Gott«, sagte ich, nahm die rotgefleckte Scherbe in die Hand und hielt sie ins Licht.
    »Braves Mädchen«, sagte Francis und wickelte ihr den Verband um den Mittelfuß. Wie die meisten Hypochonder hatte er seltsames Talent, Trost am Krankenbett zu spenden. »Sieh dich an. Du hast nicht mal geweint.«
    »Es hat nicht so sehr weh getan.«
    »Den Teufel hat es«, sagte Francis. »Du warst wirklich tapfer.«
    Henry stand auf. »Ja, sie war tapfer«, erklärte er.
     
    Am Spätnachmittag saßen Charles und ich auf der Veranda. Es war plötzlich kalt geworden; der Himmel war strahlend sonnig, aber es war Wind aufgekommen. Mr. Hatch war im Haus erschienen, um ein Feuer anzuzünden, und ich roch einen leicht beißenden Hauch von Holzrauch. Francis war ebenfalls drinnen und bereitete das Abendessen vor; er sang dabei, und seine hohe, klare Stimme wehte in etwas schräger Tonlage aus dem Küchenfenster.
    Die Schnittverletzung bei Camilla war nicht ernst gewesen. Francis hatte sie in die Unfallambulanz gefahren – Bunny war mitgekommen; er hatte sich geärgert, weil er die ganze Aufregung verschlafen hatte –, und eine Stunde später war sie wieder dagewesen; ihr Fuß war mit sechs Stichen genäht und verbunden worden, und sie hatte ein Röhrchen Tylenol-Tabletten mit Kodein. Jetzt spielten Bunny und Henry draußen Crocket, und sie war dabei; sie hinkte auf dem gesunden Fuß und auf den Zehenspitzen des anderen herum, und dieser hüpfende Gang sah von der Veranda aus merkwürdig munter aus.
    Charles und ich tranken Whiskey und Soda. Er hatte versucht, mir Pikettspielen beizubringen (»denn das spielt Rawdon Crawley in Vanity Fair «), aber ich lernte zu langsam, und die Karten lagen vergessen auf dem Tisch.
    Charles nahm einen Schluck aus seinem Glas. Er hatte sich den ganzen Tag über nicht die Mühe gemacht, sich anzuziehen. »Ich wünschte, wir brauchten morgen nicht nach Hampden zurück«, sagte er.
    »Ich wünschte, wir brauchten überhaupt nicht zurück«, sagte ich. »Ich wünschte, wir wohnten hier.«
    »Tja, vielleicht können wir das.«
    »Was?«
    »Ich meine, nicht jetzt. Aber vielleicht könnten wir’s. Nach der Schule.«
    »Wie denn das?«
    Er zuckte die Achseln. »Nun ja, Francis’ Tante will das Haus nicht verkaufen, weil sie es in der Familie behalten will. Francis könnte es praktisch umsonst von ihr bekommen, wenn er einundzwanzig wird. Und selbst, wenn nicht – Henry hat so viel Geld, daß er nicht weiß, was er damit anfangen soll. Sie könnten sich zusammentun und es kaufen. Mühelos.«
    Ich war verblüfft über diese pragmatische Antwort.
    »Ich meine, wenn Henry mit der Schule fertig ist – falls er sie je zu Ende bringt –, will er nichts weiter tun, als irgendeinen Ort finden,
wo er seine Bücher schreiben und die Zwölf Großen Kulturen studieren kann.«
    »Wie meinst du das – ›falls‹ er sie zu Ende bringt?«
    »Ich meine, vielleicht will er nicht. Vielleicht wird es ihm langweilig. Er hat schon öfter davon geredet abzugehen. Er hat keinen Grund hierzubleiben, und er wird ganz sicher niemals einen Job haben.«
    »Meinst du nicht?« Ich war neugierig. Ich hatte mir Henry immer als Griechischlehrer vorgestellt, in irgendeinem entlegenen, aber ausgezeichneten College draußen im Mittelwesten.
    Charles schnaubte. »Ganz bestimmt nicht. Warum sollte er? Er braucht das Geld nicht, und er würde einen schrecklichen Lehrer abgeben. Und Francis hat in seinem ganzen Leben noch nicht gearbeitet. Ich schätze, er könnte bei seiner Mutter wohnen, aber er kann seinen Stiefvater nicht ausstehen. Ihm würde es hier besser gefallen. Und Julian wäre dann auch nicht weit weg.«
    Ich nippte an meinem Drink und schaute zu den fernen Gestalten auf dem Rasen hinüber. Bunny, dem eine Haarsträhne in die Augen fiel, bereitete sich auf einen Schlag vor; er holte mehrfach mit dem Hammer aus

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