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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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und wiegte sich wie ein professioneller Golfspieler auf den Füßen hin und her.
    »Hat Julian Familie?« fragte ich.
    »Nein«, sagte Charles mit dem Mund voll Eis. »Er hat ein paar Neffen, aber die haßt er. Sieh dir das an, ja?« sagte er plötzlich und erhob sich halb von seinem Stuhl.
    Ich schaute. Hinten auf dem Rasen hatte Bunny endlich seinen Schlag getan; der Ball lief weit am sechsten und siebten Tor vorbei, traf aber unglaublicherweise den Wendepfosten.
    »Paß auf«, sagte ich. »Ich wette, er versucht, noch einen Schlag zu bekommen.«
    »Den bekommt er aber nicht«, sagte Charles und setzte sich wieder, ohne den Blick vom Rasen zu wenden. »Schau dir Henry an. Er läßt sich nicht erweichen.«
    Henry deutete auf die verfehlten Tore, und noch auf diese Entfernung konnte ich hören, daß er aus dem Regelwerk zitierte; leise hörten wir auch Bunnys verblüfftes Protestgeschrei.
    »Mein Kater ist praktisch weg«, sagte Charles da.
    »Meiner auch«, sagte ich. Das Licht lag golden auf dem Rasen, die Schatten waren lang und samtig, und der wolkige, strahlende Himmel war wie auf einem Gemälde von Constable. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte: ich war halb betrunken.
    Wir schwiegen eine Weile und schauten zu. Vom Rasen her hörte ich das leise pock, wenn ein Hammer gegen eine Crocketkugel schlug. Durch das Fenster tönte das Klappern von Töpfen und das Schlagen von Schranktüren, und Francis sang, als wäre es das glücklichste Lied der Welt: »Wir sind kleine schwarze Schafe, und wir haben uns verirrt ... Bäh, bäh , bäh ...«
    »Und wenn Francis das Haus kauft?« sagte ich schließlich. »Meinst du, er läßt uns hier wohnen?«
    »Klar. Er würde sich zu Tode langweilen, wenn er und Henry allein wären. Ich schätze, Bunny muß vielleicht in der Bank arbeiten, aber er könnte immer am Wochenende heraufkommen, wenn er Marion und die Kids zu Hause läßt.«
    Ich lachte. Bunny hatte am Abend vorher erzählt, daß er acht Kinder haben wollte, vier Jungen und vier Mädchen; daraufhin hatte Henry einen langen, humorlosen Vortrag darüber gehalten, daß die Vollendung des Fortpflanzungszyklus in der Natur ausnahmslos ein Vorbote des raschen Verfalls und des Todes sei.
    »Es ist schrecklich«, sagte Charles. »Wirklich, ich kann es mir genau vorstellen. Wie er draußen im Garten steht, mit irgendeiner Schürze.«
    »Und Hamburger grillt.«
    »Und zwanzig Kinder, die kreischend um ihn herumrennen.«
    »Und Picknickausflüge mit den Kiwani-Logenbrüdern.«
    »Und ein La-Z-Boy-Fernsehsessel.«
    »O Gott.«
    Ich nahm einen kleinen Schluck aus meinem Glas. Wenn ich in diesem Haus geboren worden wäre, hätte ich es nicht inniger lieben, hätte mir das Knarren der Schaukel nicht vertrauter sein können, das Muster der Clematisranken an der Pergola, die samtige Dünung des Landes, das zum Horizont grau verblaßte, der Streifen Straße, der – gerade noch – hinter den Bäumen in den Bergen sichtbar war. Ja, die Farben des Ortes waren mir ins Blut gedrungen: ein Rausch von Aquarellfarben, Elfenbein und Lapislazuli, Kastanienbraun und Orange und Gold, die erst nach und nach zu den umgrenzten Gegenständen der Erinnerung zerflossen: das Haus, der Himmel, die Ahornbäume. Aber selbst an dem Tag dort auf der Veranda, mit Charles neben mir und dem Geruch von Holzrauch in der Luft, hatte es die Beschaffenheit einer Erinnerung: Da war es, vor meinen Augen, und doch zu schön, um wahr zu sein.
    Es wurde dunkel; bald würde es Zeit zum Abendessen sein. Ich
trank mein Glas in einem Zug leer. Die Vorstellung, hier zu leben, nie wieder zu Asphalt und Einkaufscentern und Schrankwänden zurückkehren zu müssen, sondern mit Charles und Camilla und Henry und Francis und vielleicht sogar Bunny hier zu wohnen, ohne daß einer heiratete oder nach Hause fuhr oder tausend Meilen von hier einen Job annahm oder sonst einen Verrat übte, wie es Freunde nach dem College oft tun, die Vorstellung, daß alles genau so blieb, wie es in diesem Augenblick war – diese Vorstellung war so wahrhaft himmlisch, daß ich nicht sicher bin, ob ich wenigstens damals glaubte, sie könne irgendwann tatsächlich Realität werden, aber ich möchte gern glauben, daß ich es tat.
    Francis arbeitete sich mit seinem Gesang an ein großartiges Finale heran. »Singende Herren in fröh licher Zeit, verdammt in alle Ewigkeit ...«
    Charles sah mich von der Seite an. »Also, was ist mit dir?« fragte er.
    »Was meinst du?«
    »Ich meine, hast du irgendwelche

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