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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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gemacht?«
    »Ich weiß nicht. Ich bin auf etwas Scharfes getreten.« Sie legte mir eine Hand auf die Schulter, und ich hielt ihre Taille fest. Eine grüne Glasscherbe, etwa sieben Zentimeter lang, steckte in ihrem Fuß. Das Blut pulsierte dick im Takt ihres Herzschlags, und das rotfleckige Glas glitzerte bösartig in der Sonne.
    »Was ist es denn?«« fragte sie und versuchte, sich vorzubeugen, um besser zu sehen. »Ist es schlimm?«
    Sie hatte sich eine Arterie aufgeschnitten. Das Blut spritzte stark und schnell hervor.
    »Francis?« schrie ich. »Henry?«
    »Heilige Mutter Gottes«, sagte Francis, als er nah genug herangekommen war, um etwas zu erkennen, und planschend kam er auf uns zu und hielt dabei den Saum seines Bademantels mit einer Hand über dem Wasser. »Was hast du da mit dir gemacht? Kannst du gehen? Laß mal sehen«, sagte er außer Atem.
    Camilla faßte meinen Arm fester. Ihre Fußsohle war glänzend rot überzogen. Dicke Tropfen fielen von der Fußkante, quollen auseinander und verwehten wie Tinte im klaren Wasser.
    »O Gott«, sagte Francis und schloß die Augen. »Tut das weh?«
    »Nein«, sagte sie munter, aber ich wußte, daß es doch schmerzte; ich konnte fühlen, wie sie zitterte, und sie war weiß im Gesicht.
    Plötzlich war auch Henry da und beugte sich über sie. »Leg mir den Arm um den Nacken«, sagte er, und gewandt hob er sie auf, so leicht, als wäre sie aus Stroh, den einen Arm unter ihrem Kopf, den anderen unter den Knien. »Francis, lauf und hol den Erste-Hilfe-Kasten aus deinem Wagen. Wir treffen uns auf halbem Weg.«
    »Okay.« Francis war froh, daß man ihm sagte, was er tun sollte, und planschte zum Ufer.
    »Henry, laß mich runter. Du bist gleich überall voller Blut.«
    Er kümmerte sich nicht um sie. »Hier, Richard«, sagte er. »Nimm diese Socke und binde sie ihr um den Knöchel.«
    Bis jetzt hatte ich nicht daran gedacht, den Fuß abzubinden; einen feinen Arzt hätte ich abgegeben. »Zu stramm?« fragte ich.
    »Das ist schon okay. Henry, ich wünschte, du würdest mich runterlassen. Ich bin zu schwer für dich.«
    Er lächelte sie an. An einem seiner Schneidezähne war eine winzige Ecke abgebrochen, was ich noch nie bemerkt hatte; es verlieh seinem Lächeln eine sehr gewinnende Note. »Du bist leicht wie eine Feder«, sagte er.
    Manchmal, wenn es einen Unfall gegeben hat und die Wirklichkeit zu jäh und fremdartig ist, als daß man sie verstehen könnte, dann gewinnt das Surreale die Oberhand. Das Handeln verlangsamt sich zu einem traumartigen Gleiten, von Einzelbild zu Einzelbild; die Bewegung einer Hand oder ein gesprochener Satz füllt eine Ewigkeit aus. Kleinigkeiten – eine Grille an einem Pflanzenstiel, die Verzweigungen der Adern an einem Blatt – sind vergrößert und dringen in schmerzhaft klarer Schärfe aus dem Hintergrund nach vorn. Und so geschah es auch da, als wir durch die Wiese zum Haus hinübergingen. Es war wie ein Gemälde, das zu lebendig ist, um real zu sein – jedes Steinchen, jeder Grashalm scharf umrissen, und der Himmel so blau, daß es weh tat, ihn anzusehen. Camilla lag entspannt in Henrys Armen, den Kopf zurückgelegt wie bei einer Toten, und die Kurve ihres Halses war schön und leblos. Der Saum ihres Kleides wehte verloren im Wind. Henrys Hosen waren von vierteldollargroßen Tropfenflecken gesprenkelt, zu rot, um Blut zu sein – so, als habe ihn jemand mit
einem Malerpinsel bespritzt. In der überwältigenden Stille zwischen unseren echolosen Schritten sang mein Pulsschlag dünn und schnell in meinen Ohren.
    Charles schlitterte den Hang herunter, barfuß, immer noch im Bademantel, und Francis folgte dicht hinter ihm. Henry ließ sich auf die Knie nieder und setzte Camilla ins Gras. Sie stützte sich auf die Ellbogen.
    »Camilla, bist du tot?« fragte Charles atemlos, als er sich zu Boden fallen ließ, um die Wunde in Augenschein zu nehmen.
    »Jemand«, stellte Francis fest und entrollte ein Stück Verband, »wird ihr das Glas aus dem Fuß ziehen müssen.«
    »Soll ich es versuchen?« fragte Charles und blickte zu ihr hoch.
    »Sei vorsichtig.«
    Charles hielt ihre Ferse in der Hand, faßte die Scherbe zwischen Daumen und Zeigefinger und fing behutsam an zu ziehen. Camilla atmete scharf ein. Er zog noch einmal – fester jetzt –, und sie schrie auf.
    Charles’ Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Er traf Anstalten, ihren Fuß noch einmal zu berühren, aber er brachte es nicht über sich. Seine Fingerspitzen waren naß

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