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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Augenblick. Ich stand da und glotzte sie blöde an; das Blut pochte in meinen Adern, und meine sorgsam vorbereiteten Pläne für einen Abschiedskuß waren vergessen, da flog sie unverhofft auf mich zu und warf mir die Arme um den Hals. Ihr rauher Atem klang laut in meinem Ohr, und ihre Wange war wie Eis, als sie sie einen Augenblick später an meine drückte, und als ich ihre behandschuhte Hand nahm, fühlte ich den schnellen Puls ihres nackten, schmalen Handgelenks unter meinen Daumen.
    Das Taxi hupte, und Charles steckte den Kopf aus dem Fenster. »Jetzt komm « , schrie er.
    Ich ging zum Gehweg hinunter und blieb unter der Straßenlaterne stehen, als sie wegfuhren. Sie hatten sich auf dem Rücksitz umgedreht und winkten mir durch das Heckfenster zu; ich stand da und sah ihnen nach, und der Geist meines eigenen verzerrten Spiegelbilds wurde in der Krümmung der dunklen Glasscheibe kleiner und kleiner, bis das Taxi um die Ecke fuhr und verschwand.
    Ich stand auf der verlassenen Straße, bis ich das Motorengeräusch nicht mehr hören konnte, sondern nur noch das Zischeln des Pulverschnees, den der Wind in kleinen Wirbeln über den Boden stieben ließ. Dann machte ich mich auf den Rückweg zum Campus, die Hände in den Taschen, und das Knirschen meiner Schritte klang unerträglich laut. Die Wohnheime standen schwarz und schweigend da, und der große Parkplatz hinter der Tennisanlage war leer, abgesehen von ein paar Autos, die Lehrern gehörten, und einem einsamen grünen Lastwagen der Hausmeisterei. Die Korridore in meinem Haus waren übersät von Schuhkartons und leeren Kleiderbügeln, die Türen standen offen, und alles war dunkel und totenstill. Ich war so deprimiert, wie ich es im Leben noch nie gewesen war. Ich zog die Jalousien herunter, legte mich auf mein ungemachtes Bett und schlief wieder ein.
     
    Ich hatte so wenig, daß ich alle meine Sachen auf einmal mitnehmen konnte. Als ich gegen Mittag wieder aufwachte, packte ich meine zwei Koffer und schleppte sie, nachdem ich meine Schlüssel abgeliefert hatte, die verlassene, verschneite Straße hinunter in die Stadt und zu der Adresse, die der Hippie mir am Telefon genannt hatte.
    Der Weg war weiter, als ich erwartet hatte; er führte mich bald von der Hauptstraße herunter und durch eine besonders trostlose Gegend in der Nähe des Mount Cataract. Ich ging an einem flachen, reißenden Fluß – dem Battenkill – entlang, der in seinem Verlauf hier und da von überdachten Brücken überspannt wurde. Es gab nur wenige Häuser hier, und selbst die düsteren, furchterregenden Mobilheime, die man im Hinterwald von Vermont häufig sieht – mit gewaltigen Holzstößen an der Seite und schwarzem Rauch, der aus einem Kaminrohr quillt –, waren rar und dünn gesät. Autos sah ich überhaupt nicht, abgesehen von vereinzelten Wracks, die in Vorgärten aufgebockt auf Mauersteinen standen.
    Im Sommer wäre es ein angenehmer, wenn auch selbst dann anstrengender Marsch gewesen, aber im Dezember, bei halbmeterhohem Schnee und mit zwei schweren Koffern in den Händen, fragte ich mich bald, ob ich es überhaupt schaffen würde. Zehen und Finger wurden mir starr vor Kälte, und mehr als einmal mußte ich haltmachen, um mich auszuruhen, aber allmählich sah die Landschaft immer weniger verlassen aus, und schließlich kam die Straße da raus, wo man es mir gesagt hatte: an der Prospect Street in East Hampden.
    Diesen Teil der Stadt hatte ich noch nie gesehen, und er war Welten entfernt von dem Teil, den ich kannte, mit seinen Ahornbäumen und holzverschalten Ladenfassaden, mit dem Stadtpark und dem Uhrturm am Gericht. Dieses Hampden hier war ein ausgebombtes Areal mit Wassertürmen, rostigen Eisenbahngleisen, Lagerhäusern mit durchhängenden Dächern und Fabriken, deren Türen vernagelt und deren Fenster zerschlagen waren. Alles sah so aus, als stehe es seit der Wirtschaftskrise leer – mit Ausnahme einer schmierigen kleinen Kneipe am Ende der Straße, die – nach dem Auftrieb von Lastwagen davor zu urteilen – gute, flotte Geschäfte machte, selbst so früh am Nachmittag. Ketten von Weihnachtslichtern und Mistelzweige aus Plastik hingen über der Neon-Bierreklame, und als ich einen Blick hinein warf, sah ich eine Reihe von Männern in Flanellhemden an der Bar sitzen. Alle hatten Schnapsgläser oder Bier vor sich stehen; weiter hinten
drängte sich eine jüngere Meute – stämmige Kerle, die sich durch Baseballmützen auszeichneten – um ein Poolbillard. Ich stand

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