Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Wirklichkeit zu allen möglichen komplizierten technischen Arbeiten imstande, obwohl ich ihm nie so etwas erzählt hatte. »Hast du doch«, sagte er, als ich Unkenntnis vorschützte. »Hast du doch. Du hast gesagt, du hast im Sommer in den Blue Ridge Mountains gewohnt und Hackbretter gebaut. In Kentucky.«
    Darauf konnte ich nichts erwidern. Ich bin es durchaus gewöhnt, mit meinen eigenen Lügen konfrontiert zu werden, aber die von anderen machen mich doch jedesmal fassungslos. Ich konnte es nur abstreiten und ganz aufrichtig erwidern, ich wisse überhaupt nicht, was ein Hackbrett sei. »Du sollst Wirbel schnitzen«, sagte er dann frech. »Und feg den Boden.« Darauf antwortete ich knapp, ich könne ja wohl kaum Wirbel schnitzen, wenn es in dem Zimmer so kalt sei, daß ich nicht mal die Handschuhe ausziehen könne. »Dann mußt du die Fingerspitzen abschneiden, Mann«, sagte Leo ungerührt. Über diese gelegentlichen Standpauken im Eingangsflur ging mein Kontakt mit ihm nicht hinaus. Irgendwann war es für
mich offensichtlich, daß Leo all seiner vorgeblichen Liebe zu den Mandolinen zum Trotz niemals einen Fuß in die Werkstatt setzte und es, bevor ich dort eingezogen war, anscheinend auch seit Monaten nicht mehr getan hatte. Allmählich fragte ich mich, ob er von dem Loch im Dach vielleicht gar nichts wußte, und eines Tages erdreistete ich mich, es ihm gegenüber zu erwähnen. »Ich dachte, das wäre eine der Sachen, die du hier mal in Ordnung bringen könntest«, antwortete er nur.
    Gelegentlich kam Post an meine Adresse in Hampden College. Francis schrieb mir in einem sechsseitigen Brief, wie sehr er sich langweilte und wie übel ihm sei, und er zählte buchstäblich alles auf, was er hatte essen müssen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Die Zwillinge, gesegnet sollen sie sein, schickten Schachteln mit Plätzchen, die ihre Großmutter gebacken hatte, und Briefe in verschiedenfarbiger Tinte – schwarz für Charles und rot für Camilla. Etwa in der zweiten Januarwoche bekam ich eine Postkarte aus Rom ohne Absender. Das Foto zeigte den Augustus von Primaporta, und daneben hatte Bunny mit überraschend geschicktem Strich einen Cartoon von sich selbst und Henry in römischem Gewand (Toga und kleine runde Brille) gezeichnet, wie sie neugierig in die Richtung blinzeln, in die der ausgestreckte Arm der Statue weist. (Caesar Augustus war Bunnys Held; er hatte uns alle in Verlegenheit versetzt, als er im Laufe der Lesung aus Lukas 2 bei der Erwähnung seines Namens auf der Weihnachtsfeier der literaturwissenschaftlichen Fakultät in lauten Jubel ausgebrochen war. »Na, was denn«, sagte er, als wir versuchten, ihn zum Schweigen zu bringen, »die ganze Welt gehörte geschätzt.«)
    Ich habe diese Postkarte immer noch. Charakteristischerweise ist sie mit Bleistift geschrieben; im Laufe der Jahre ist alles ein bißchen verwischt, aber immer noch lesbar. Eine Unterschrift ist nicht vorhanden, aber über den Autor besteht kein Zweifel.
    Richard, mein Alter
    bist du Erfroren? es ist ziemlich warm hier. Wir wohnen in einer Penscione. Ich habe gestern aus versehen Conche in einem Restaurant bestellt es war schrecklich aber Henry hat es gegessen. Alle hier sind Verdammte katholiken. Arrivaderci bis demnächst.
    Francis und die Zwillinge erkundigten sich ziemlich hartnäckig nach meiner Adresse in Hampden. »Wo wohnst Du?« fragte Charles
in schwarzer Tinte. »Ja, wo?« echote Camilla in Rot. (Sie verwandte eine Tinte mit einem speziellen Saffianton, der mir, der ich sie schrecklich vermißte, in einem Farbenrausch die ganze dünne, muntere Heiterkeit ihrer Stimme in den Sinn kommen ließ.) Da ich ihnen keine Adresse nennen konnte, ignorierte ich diese Anfragen und füllte meine Antwortbriefe mit ausschweifenden Verweisen auf den Schnee und die Schönheit des Winters und die Einsamkeit.
    Ich schrieb diese Briefe morgens vor der Arbeit, in der Bibliothek und im Commons, wo ich mich jeden Abend herumtrieb, bis der Hausmeister mich aufforderte zu gehen. Es war, als setzte sich mein ganzes Leben aus diesen isolierten Zeitsplittern zusammen, in denen ich bald an diesem, bald an jenem öffentlichen Ort herumlungerte, als wartete ich auf Züge, die niemals kamen. Und wie eins jener Gespenster, die angeblich spätnachts in den Depots herumgeistern und die Passanten nach dem Fahrplan des Midnight Express fragen, der vor zwanzig Jahren entgleist ist, so wanderte ich von Licht zu Licht bis zu jener gefürchteten Stunde, da alle Türen

Weitere Kostenlose Bücher