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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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vor der mit rotem Vinyl gepolsterten Tür und schaute noch einen Moment länger durch das Bullauge hinein. Dann beschloß ich, hineinzugehen und nach dem Weg zu fragen, etwas zu trinken und mich aufzuwärmen. Meine Hand lag bereits auf der schmierigen Messingtürklinke, als ich den Namen des Lokals im Fenster sah: »Boulder Tap«. Nach allem, was ich aus den Lokalnachrichten vom »Boulder Tap« wußte, war es die Wiege des bißchen Kriminalität, die es in Hampden gab – Messerstechereien, Vergewaltigungen und nie einen einzigen Zeugen. Es war nicht die Sorte Lokal, die man allein auf einen Drink betrat, wenn man ein verirrter College-Boy aus der Oberstadt war.
    Am Ende war es freilich doch nicht so schwierig, das Haus zu finden, in dem der Hippie wohnte. Es war eins der Lagerhäuser am Fluß, leuchtend lila angestrichen.
    Der Hippie sah verärgert aus, als ob ich ihn geweckt hätte, als er schließlich zur Tür kam. »Beim nächsten Mal machst du dir einfach selber auf, Mann«, sagte er mürrisch. Er war ein kleiner, fetter Kerl in einem schweißfleckigen T-Shirt und mit rotem Bart, und er sah aus, als habe er schon viele schöne Abende mit seinen Freunden am Billardtisch im »Boulder Tap« verbracht. Er zeigte mir den Raum, in dem ich wohnen sollte – oben an einer Eisentreppe (die natürlich kein Geländer hatte) – und verschwand ohne ein weiteres Wort.
    Ich befand mich in einem hallenartigen, verstaubten Raum mit Holzdielen und hohen, nackten Dachbalken. Abgesehen von einer zerbrochenen Kommode und einem hohen Stuhl in einer Ecke gab es überhaupt keine Möbel, sondern nur einen Rasenmäher, ein rostiges Ölfaß und einen Tisch auf zwei Böcken, der übersät war von Schmirgelpapier, Tischlerwerkzeugen und ein paar krummen Holzstücken, die vielleicht zu den Skeletten von Mandolinen gehörten. Der Fußboden war bedeckt mit Sägemehl, Nägeln, Lebensmittelverpackungen, Zigarettenstummeln und Playboy -Heften aus den siebziger Jahren; die zahlreichen Scheiben in den Sprossenfenstern waren pelzig von Reif und Dreck.
    Ich ließ erst den einen, dann den anderen Koffer aus meinen tauben Händen fallen; einen Augenblick lang war auch mein Kopf wie betäubt, und ich nahm gefügig und kommentarlos alle diese Eindrücke in mich auf. Dann drang mir unvermittelt ein überwältigendes, brüllendes Rauschen ins Bewußtsein. Ich ging zu den
Fenstern auf der anderen Seite des Holztisches und sah zu meinem Erstaunen kaum einen Meter unter mir eine weite Wasserfläche. Weiter hinten sah ich, wie das Wasser über ein Wehr donnerte, daß es heftig aufsprühte. Als ich versuchte, mit der Hand einen Kreis an der Fensterscheibe aufzutauen, stellte ich fest, daß mein Atem auch hier drinnen immer noch weiß dampfte.
    Plötzlich fuhr etwas, das ich nur als eisigen Luftschwall beschreiben kann, über mich hinweg. Ich schaute hoch. Im Dach klaffte ein großes Loch; ich sah blauen Himmel und eine Wolke, die rasch von links nach rechts an dem gezackten schwarzen Rand vorbeizog. Darunter am Boden lag eine dünne, pulvrige Schneeschicht, eine perfekte Kopie der Form, die das Loch darüber hatte, unberührt mit Ausnahme der scharfen Umrisse eines einzelnen Fußabdrucks - meines eigenen.
     
    Eine ganze Reihe Leute fragte mich später, ob mir klar gewesen wäre, wie gefährlich das war: draußen in Vermont in den kältesten Monaten des Jahres zu versuchen, in einem ungeheizten Gebäude zu leben – und, um offen zu sein, das war es nicht. Im Hinterkopf hatte ich Geschichten, die ich gehört hatte, Geschichten von Betrunkenen, alten Leuten, unvorsichtigen Skiläufern, die erfroren waren, aber aus irgendeinem Grund schien das alles für mich nicht zu gelten. Mein Quartier war unbequem, sicher; es war widerlich schmutzig und bitterkalt. Aber ich kam nie auf den Gedanken, daß es tatsächlich gefährlich sein könnte. Andere Studenten hatten dort gewohnt; der Hippie wohnte selbst dort; eine Sekretärin im Zimmervermittlungsbüro hatte mir davon erzählt. Vermutlich hätte jeder, der die ganze Geschichte kannte, mich gewarnt, aber wie die Dinge lagen, kannte sie niemand. Es war mir so peinlich, in einer derartigen Unterkunft zu wohnen, daß ich niemandem davon erzählt hatte, nicht einmal Dr. Roland; der einzige, der alles wußte, war der Hippie, und den kümmerte nur sein eigenes Wohlergehen.
    Frühmorgens, wenn es noch dunkel war, wachte ich unter meinen Decken auf dem Fußboden auf (ich schlief bekleidet mit zwei oder drei Pullovern, langer

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