Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
die Augen weit aufgerissen.
Jeden Morgen erschien ich in Dr. Rolands Büro, pünktlich wie ein Uhrwerk. Er, angeblich Psychologe, erkannte keines der Zehn Warnzeichen eines nahenden Nervenzusammenbruchs, oder was immer es war, was man ihn zu erkennen ausgebildet und zu lehren qualifiziert hatte. Statt dessen nutzte er meine Schweigsamkeit, um mit sich selbst über Football zu reden und über Hunde, die er als Junge gehabt hatte. Die wenigen Bemerkungen, die er an mich richtete, waren kryptisch und unverständlich. Er fragte beispielsweise, weshalb ich, wo ich doch in der Drama-Abteilung sei, in keinem Stück zu sehen gewesen sei. »Was ist los? Sind Sie schüchtern, Junge? Zeigen Sie ihnen, woraus Sie gemacht sind.« Ein andermal erzählte er beiläufig, er habe nicht gewußt, daß mein Freund den Winter über in Hampden sei.
»Ich habe hier im Winter keine Freunde«, sagte ich, und ich hatte auch keine.
»Sie sollten Ihre Freunde nicht so wegstoßen. Die besten Freunde, die Sie je haben werden, sind die, die Sie jetzt finden. Ich weiß, daß Sie mir nicht glauben, aber sie fangen an, von Ihnen abzufallen, wenn Sie in mein Alter kommen.«
Wenn ich abends nach Hause ging, wurde alles weiß an den Rändern, und es war, als hätte ich keine Vergangenheit, keine Erinnerungen, als sei ich ewig nur auf genau diesem leuchtenden, zischelnden Stück Straße gewesen.
Ich weiß nicht, was mir genau fehlte. Die Ärzte meinten, es handelte sich um eine chronische Hypothermie, verstärkt durch schlechte Ernährung und eine leichte Lungenentzündung, aber ich weiß nicht, ob damit all die Halluzinationen und die geistige Verwirrung erklärt sind. Damals war mir nicht einmal bewußt, daß ich krank war: Jedes Symptom, ob Fieber oder Schmerzen, ertrank im Getöse meines unmittelbaren Elends.
Denn ich war in einer schlimmen Klemme. Es war der kälteste Januar, den man seit fünfundzwanzig Jahren verzeichnet hatte. Ich hatte schreckliche Angst zu erfrieren, aber ich konnte nirgends
hin. Ich konnte doch schlecht Dr. Roland fragen, ob ich in dem Apartment unterkriechen könnte, das er mit seiner Freundin teilte. Und außer ihm kannte ich sonst niemanden auch nur flüchtig, und wenn ich nicht an fremde Türen klopfen wollte, gab es wenig, was ich tun konnte. Eines Abends versuchte ich, meine Eltern von der Telefonzelle vor dem »Boulder Tap« aus anzurufen; es graupelte, und ich zitterte so heftig, daß ich kaum die Münzen in den Schlitz bekam. Ich verspürte zwar eine verzweifelte, unausgegorene Hoffnung, sie könnten mir Geld oder ein Flugticket schicken, aber ich wußte doch eigentlich nicht, was ich von ihnen hören wollte; ich glaube, ich hatte irgendwie die Vorstellung, daß ich mich hier in Graupel und Wind auf der Prospect Street besser fühlen würde, wenn ich einfach die Stimmen von Menschen hörte, die weit weg an einem warmen Ort waren. Aber als mein Vater beim sechsten oder siebten Klingeln den Hörer abnahm, rief seine bierschwere, gereizte Stimme ein hartes, trockenes Gefühl in meiner Kehle hervor, und ich hängte ein.
Dr. Roland erwähnte noch einmal meinen imaginären Freund. Diesmal hatte er ihn in der Stadt gesehen, spätabends auf dem Platz, als er nach Hause fuhr.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich habe hier keine Freunde«, erklärte ich.
»Sie wissen doch, von wem ich rede. Großer, kräftiger Junge. Trägt eine Brille.«
Jemand, der aussah wie Henry? Bunny? »Sie müssen sich irren«, sagte ich.
Die Temperatur sank so tief, daß ich gezwungen war, ein paar Nächte im Catamount Motel zu verbringen. Außer mir war niemand dort – nur der zahnlose alte Mann, der es führte; er wohnte im Nachbarzimmer und hielt mich mit seinem lauten Gehuste und Gespucke wach. Meine Tür hatte kein Schloß, abgesehen von einem jener antiken Dinger, die man mit einer Haarnadel aufbekommt; in der dritten Nacht erwachte ich aus einem bösen Traum (ein Alptraum-Treppenhaus, die Stufen allesamt verschieden hoch und breit; ein Mann lief vor mir hinunter, sehr schnell), weil ich ein leises, klickendes Geräusch gehört hatte. Ich setzte mich im Bett auf und sah zu meinem Entsetzen, wie der Türknopf sich im Mondlicht verstohlen drehte. »Wer ist da?« fragte ich laut, und es hörte auf. Lange lag ich im Dunkeln wach. Am nächsten Morgen zog ich aus; ein stiller Tod bei Leo war mir lieber, als im Bett ermordet zu werden.
Um den ersten Februar herum brach ein schreckliches Unwetter aus; Stromleitungen knickten ein, Autofahrer
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