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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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blieben im Schnee stecken, und mich überkam ein Anfall von Halluzinationen. Stimmen sprachen mit mir, im Tosen des Wassers, im Zischeln des Schnees. »Leg dich hin«, wisperten sie, und: »Links abbiegen. Wenn nicht, wirst du’s bereuen.« Meine Schreibmaschine in Dr. Rolands Büro stand am Fenster. Eines späten Nachmittags, als es dunkel wurde, blickte ich hinunter in den leeren Hof und sah zu meiner Verblüffung, daß unter der Laterne eine dunkle, regungslose Gestalt erschienen war; sie stand da mit den Händen in den Taschen eines schwarzen Mantels und schaute zu meinem Fenster herauf. Der Hof war dunkel überschattet, und es schneite heftig. »Henry?« sagte ich und preßte die Augen zu, bis ich Sterne sah. Als ich sie wieder aufmachte, sah ich nur den Schnee, der in der Leere des Lichtkegels unter der Laterne wirbelte.
    Nachts lag ich zitternd auf dem Fußboden und sah zu, wie die beleuchteten Schneeflocken wie in einer Säule durch das Loch in der Decke rieselten. Am Rande der Gefühllosigkeit, wenn ich in die Bewußtlosigkeit hinabzugleiten drohte, sagte mir im letzten Augenblick irgend etwas, daß ich vielleicht nie wieder aufwachen würde, wenn ich jetzt einschliefe: Mühsam zwang ich mich, die Augen aufzuhalten, und ganz unvermittelt erschien mir die Schneesäule, die da leuchtend und hoch in ihrer dunklen Ecke stand, in ihrer wahren, wispernden Bedrohlichkeit, ein luftiger Engel des Todes. Aber ich war zu müde, als daß es mich noch hätte kümmern können; noch während ich hinschaute, merkte ich, daß ich den Halt verlor, und ehe ich es wußte, stürzte ich schon hinab in den dunklen Abgrund des Schlafes.
    Die Zeit begann zu verschwimmen. Ich schleppte mich noch immer ins Büro – aber nur, weil es dort warm war; irgendwie erledigte ich die simplen Aufgaben, die ich dort hatte. Aber ich weiß wahrlich nicht, wie lange ich das noch hätte durchhalten können, wenn nicht etwas sehr Überraschendes geschehen wäre.
    Ich werde diesen Abend nicht vergessen, solange ich lebe. Es war Freitag, und Dr. Roland wollte bis zum folgenden Mittwoch verreisen. Für mich bedeutete das vier Tage im Lagerhaus, und selbst in meinem umwölkten Zustand war mir klar, daß ich jetzt vielleicht wirklich erfrieren würde.
    Als das Commons geschlossen wurde, machte ich mich auf den Heimweg. Es lag hoher Schnee, und schon bald begannen mir die Beine bis zu den Knien herauf zu prickeln und taub zu werden. Als
die Straße schließlich in East Hampden einmündete, fragte ich mich ernsthaft, ob ich es noch bis zum Lagerhaus schaffen würde und was ich anfangen sollte, wenn ich dort wäre. Ganz East Hampden war dunkel und verlassen, sogar das »Boulder Tap«; der einzige Lichtschein im meilenweiten Umkreis schimmerte aus der Telefonzelle davor. Ich schleppte mich darauf zu, als wäre sie eine Fata Morgana in der Wüste. Ich hatte ungefähr dreißig Dollar in der Tasche – mehr als genug, um mir ein Taxi zu rufen und ins Catamount Motel zu fahren, zu einem miesen kleinen Zimmer mit einer unverschlossenen Tür, und was immer mich sonst dort erwarten mochte.
    Meine Zunge war schwer, und die Vermittlung weigerte sich, mir die Nummer einer Taxifirma zu geben. »Sie müssen mir schon den Namen einer bestimmten Taxifirma nennen«, sagte sie. »Wir dürfen keine ...«
    »Ich kenne keine bestimmte Taxifirma«, brachte ich hervor. »Hier ist kein Telefonbuch.«
    »Bedaure, Sir, aber wir dürfen keine ...«
    »Red Top?« sagte ich verzweifelt und bemühte mich, weitere Namen zu erraten, mir welche auszudenken, irgendwas. »Yellow Top? Town Taxi? Checker?«
    Endlich hatte ich offenbar eine getroffen; vielleicht hatte sie aber auch nur Mitleid. Es klickte, und dann nannte eine mechanische Stimme mir die Nummer. Ich wählte hastig, um sie nicht zu vergessen - so hastig, daß ich mich verwählte, und mein Vierteldollar war weg.
    Ich hatte noch einen Vierteldollar in der Tasche; es war mein letzter. Ich zog den Handschuh aus und wühlte mit tauben Fingern in der Tasche herum. Schließlich fand ich ihn; ich hatte ihn in der Hand und wollte ihn zum Münzeinwurf heben, da rutschte er mir plötzlich aus den Fingern, und ich bückte mich hastig hinterher und schlug mit der Stirn auf die scharfe Kante des Metalltisches unter dem Telefon.
    Ich lag ein paar Augenblicke lang mit dem Gesicht im Schnee. Es rauschte mir in den Ohren. Im Fallen hatte ich nach dem Telefon gegriffen und den Hörer heruntergeschlagen; das Freizeichen, das aus dem hin- und

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