Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
einzige Adresse, unter der ich dich erreichen konnte, war die des Colleges. Heute nachmittag habe ich dann in der Verwaltung herumgefragt. Übrigens«, fuhr er fort, »wie heißt die Stadt, in der deine Eltern wohnen?«
»Plano. Wieso?«
»Ich dachte, du willst sie vielleicht anrufen.«
»Mach dir keine Mühe«, sagte ich und ließ mich zurücksinken.
Die Infusion strömte mir wie Eis durch die Adern. »Erzähl mir von Rom.«
»Also gut.« Und er begann, sehr leise zu erzählen: von den hübschen etruskischen Terracottas in der Villa Giulia und von den Lilienteichen und den Springbrunnen im Nymphaeum davor; von der Villa Borghese und dem Colosseum, von dem Blick, der sich frühmorgens auf dem Palatin bot, und davon, wie schön die Thermen des Caracalla in römischer Zeit gewesen sein mußten mit all dem Marmor und den Bibliotheken und dem großen, kreisrunden Calidarium und dem Frigidarium mit dem großen, leeren Bassin, das heute noch vorhanden war – und wahrscheinlich noch von vielen anderen Dingen, aber ich erinnere mich nicht mehr, denn ich schlief ein.
Ich blieb vier Nächte in dem Krankenhaus. Henry war fast die ganze Zeit da und brachte mir Sodawasser, wenn ich welches wollte, und einen Rasierapparat und eine Zahnbürste und einen von seinen eigenen Pyjamas – aus seidiger ägyptischer Baumwolle, cremefarben und himmlisch weich; die Tasche war in winzigen scharlachroten Buchstaben mit den Initialen HMW (M für Marchbanks) bestickt. Er brachte mir auch Bleistifte und Papier – ich hatte wenig Verwendung dafür, aber er wäre vermutlich ohne diese Dinge verloren gewesen – sowie eine ganze Menge Bücher; die Hälfte davon war in Sprachen geschrieben, die ich nicht verstand, und die andere Hälfte hätte es ebensogut sein können. Eines Abends – der Kopf tat mir weh von lauter Hegel – bat ich ihn, mir eine Illustrierte zu bringen; er machte ein ziemlich verblüfftes Gesicht, und als er zurückkam, hatte er eine Fachzeitschrift ( Pharmacology Update ) , die er im Aufenthaltsraum gefunden hatte. Wir unterhielten uns kaum. Die meiste Zeit las er, und zwar mit einer Konzentration, die mich erstaunte: sechs Stunden an einem Stück, fast ohne aufzublicken. Er beachtete mich so gut wie gar nicht. Aber in den schlimmen Nächten blieb er mit mir wach, wenn ich Mühe hatte zu atmen und meine Lunge so weh tat, daß ich nicht schlafen konnte; und einmal, als die diensthabende Krankenschwester mir meine Medizin drei Stunden zu spät brachte, folgte er ihr mit ausdrucksloser Miene hinaus in den Gang und verpaßte ihr dort in seinem gedämpften, monotonen Tonfall einen dermaßen strammen und beredten Tadel, daß die Schwester (eine verächtlich blickende, verbissene Frau, die mit ihren gefärbten Haaren aussah wie eine alternde Kellnerin und jedermann nur mit
saurer Miene anredete) ein wenig sanftmütiger wurde; danach war sie – die mir die Pflaster um die Infusionskanüle mit solcher Gefühllosigkeit abgerissen und mich in ihrer gedankenlosen Suche nach Venen grün und blau gestochen hatte – im Umgang mit mir sehr viel behutsamer, und einmal, beim Fiebermessen, nannte sie mich sogar »Honey«.
Der Arzt aus der Notaufnahme erzählte mir, Henry habe mir das Leben gerettet. Das war eine dramatische Nachricht, die mir große Genugtuung verschaffte – und die ich mehreren Leuten gegenüber wiederholte –, aber insgeheim hielt ich es für eine Übertreibung. In den folgenden Jahren indessen bin ich mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, daß es durchaus so gewesen sein könnte. Als ich jünger war, hielt ich mich, wie es vermutlich viele tun, für unsterblich. Und obgleich ich – in kurzfristigem Sinn – rasch wieder auf den Beinen war, bin ich in einem anderen Sinn eigentlich niemals ganz über diesen Winter hinweggekommen. Ich habe seitdem Lungenprobleme; die leiseste Kälte tut mir in den Knochen weh, und ich verkühle mich leicht, was früher nie der Fall war.
Ich erzählte Henry, was der Arzt gesagt hatte. Er war verstimmt. Stirnrunzelnd machte er irgendeine knappe Bemerkung – tatsächlich wundert es mich, daß ich sie vergessen habe, aber ich war so verlegen –, und ich erwähnte die Sache nie wieder. Aber ich glaube, er hat mich gerettet. Und irgendwo – falls es einen Ort gibt, wo Listen geführt und Lob und Tadel verzeichnet werden – steht ganz sicher ein goldener Stern neben seinem Namen.
Aber ich werde sentimental. Manchmal, wenn ich an diese Dinge denke, kommt das
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