Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
sich schlossen, und wenn ich dann aus der Welt der Wärme und der Menschen und der belauschten Gespräche hinaustrat, fühlte ich, wie die alte, vertraute Kälte sich wieder in meine Knochen wand, und dann war alles vergessen – die Wärme, die Lichter – und mir war nie im Leben warm gewesen, niemals.
Ich wurde ein Experte darin, mich unsichtbar zu machen. Ich konnte zwei Stunden über einem Kaffee hocken, vier Stunden bei einem Essen, und die Kellnerin bemerkte mich kaum. Obwohl die Hausmeister mich jeden Abend zur Feierabendzeit aus dem Commons hinauswarfen, bemerkten sie vermutlich nie, daß sie zweimal hintereinander mit demselben Studenten gesprochen hatten. Sonntagnachmittags saß ich, den Mantel der Unsichtbarkeit fest um die Schultern gelegt, manchmal sechs Stunden in der Krankenstation und las friedlich in den Nummern des Yankee oder des Reader’s Digest (»Zehn Mittel gegen die verflixten Rückenschmerzen!«), und weder die Aufnahmeschwester noch der Arzt, noch Kranke bemerkten meine Anwesenheit.
Aber genau wie der Unsichtbare bei H. G. Wells entdeckte ich, daß meine Gabe ihren Preis hatte, der in meinem wie in seinem Fall die Form einer Art geistiger Dunkelheit annahm. Es war, als unterließen die Leute es, mir in die Augen zu sehen, als träfen sie Anstalten, mitten durch mich hindurchzugehen; und meine abergläubischen Vorstellungen begannen, sich geradezu zu einer Manie
zu entwickeln. Ich war bald davon überzeugt, daß es nur eine Frage der Zeit sei, wann eine der wackligen Eisenstufen, die zu meinem Zimmer hinaufführten, durchbräche, und dann würde ich hinunterfallen und mir den Hals oder – noch schlimmer – ein Bein brechen: Dann würde ich erfrieren oder verhungern, ehe Leo mir zu Hilfe käme. Weil mir eines Tages, als ich die Treppe erfolgreich und ohne Angst erstiegen hatte, ein alter Brian-Eno-Song durch den Kopf gegangen war (»In New Delhi / and Hong Kong / They all know that it won’t be long ...«), mußte ich ihn jetzt jedesmal singen, wenn ich die Treppe hinauf- oder hinunterging.
Und jedesmal, wenn ich die Fußgängerbrücke über den Fluß überquerte, zweimal täglich, mußte ich stehenbleiben und in dem kaffeebraunen Schnee am Straßenrand herumwühlen, bis ich einen Stein von anständiger Größe gefunden hatte; dann lehnte ich mich über das eiskalte Geländer und warf ihn in die reißende Strömung, die über die gesprenkelten Dinosauriereier aus Granit im Flußbett hinwegblubberte – eine Gabe an den Flußgott vielleicht, um meinen sicheren Übergang zu gewährleisten, oder vielleicht auch der Versuch, zu beweisen, daß ich, wiewohl unsichtbar, doch existierte. Das Wasser war an einigen Stellen so seicht und klar, daß ich manchmal hörte, wie der Stein klickte, wenn er auf Grund stieß. Beide Hände auf das eisige Geländer gelegt, starrte ich in das Wasser, das weiß gegen die Felsen rauschte und dünn über polierte Steine kochte, und ich fragte mich, wie es sein würde, hinunterzufallen und mir den Schädel auf einem dieser glänzenden Steine aufzubrechen: ein böses Krachen, plötzliches Erschlaffen, und dann rote Adern, die das glasige Wasser marmorierten.
Wenn ich mich hinunterstürzte, dachte ich, wer würde mich dann finden in all der weißen Stille? Würde der Fluß mich stromabwärts über die Felsen prügeln, bis er mich in stillerem Gewässer ausspuckte, unten hinter der Färberei, wo irgendeine Lady mich mit dem Strahl ihrer Schweinwerfer erfassen würde, wenn sie um fünf Uhr nachmittags vom Parkplatz fuhr? Oder würde ich mich an irgendeiner stillen Stelle hinter einem großen Felsblock verkanten und dort, von meinen Kleidern umspült, auf den Frühling warten?
Dies war, das sollte ich noch sagen, etwa in der dritten Januarwoche. Das Thermometer fiel; mein Leben, das bis dahin nur einsam und jammervoll gewesen war, wurde unerträglich. Jeden Tag ging ich benommen zur Arbeit und wieder zurück, manchmal bei Temperaturen von fünfundzwanzig oder dreißig Grad unter Null, manchmal in Unwettern, in denen ich nur noch Weiß sah und
überhaupt nur nach Hause fand, indem ich mich an der Leitplanke am Straßenrand entlangtastete. Sobald ich zu Hause war, wickelte ich mich in meine schmutzigen Decken und fiel zu Boden wie ein Toter. Jeder Augenblick, der nicht von meinen Bemühungen verzehrt wurde, der Kälte zu entkommen, war von morbiden, poehaften Phantasien erfüllt. Einmal sah ich nachts im Traum meinen eigenen Leichnam, die Haare steif vom Eis,
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