Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
gehabt?«
»Henry ist nicht so kräftig, wie er aussieht. Seine Augen plagen ihn, er hat schreckliche Kopfschmerzen, manchmal starke Beschwerden ... Ich fand nicht, daß er in einem Zustand war, der ihn zum Reisen befähigte. Aber es war ein Glück, daß er nicht noch länger geblieben ist, denn dann hätte er Sie nicht gefunden. Erzählen Sie mir, wie konnten Sie in einem so grausigen Haus landen? Wollten Ihre Eltern Ihnen kein Geld geben, oder wollten Sie sie nicht darum bitten?«
»Ich wollte sie nicht darum bitten.«
»Dann sind Sie ein größerer Stoiker als ich.« Er lachte. »Aber von Ihren Eltern werden Sie anscheinend nicht besonders geliebt; habe ich recht?«
»Sie sind nicht gerade verrückt nach mir, nein.«
»Was glauben Sie – warum ist das so? Oder ist es unhöflich von mir, danach zu fragen? Man möchte meinen, sie wären durchaus stolz auf Sie, aber Sie wirken mehr wie ein Waise als unsere echten Waisen hier. Ach, sagen Sie« – er blickte auf –, »wie kommt es, daß die Zwillinge noch nicht bei mir gewesen sind?«
»Ich habe sie auch noch nicht gesehen.«
»Wo können sie nur sein? Noch nicht einmal Henry habe ich gesehen. Lediglich Sie und Edmund. Francis hat angerufen, aber ich habe nur kurz mit ihm gesprochen. Er war in Eile und sagte, er wolle später vorbeikommen, aber das hat er nicht getan ... Ich glaube nicht, daß Edmund ein einziges Wort Italienisch gelernt hat - Sie etwa?«
»Ich spreche nicht Italienisch.«
»Ich auch nicht. Nicht mehr. Ich sprach es früher ziemlich gut. Ich habe eine Zeitlang in Florenz gelebt, aber das ist fast dreißig Jahre her. Sehen Sie heute nachmittag einen der anderen?«
»Vielleicht.«
»Es ist natürlich nur eine Sache von geringer Bedeutung, aber die Belegzettel sollten heute nachmittag im Büro des Dekans sein, und er wird ärgerlich sein, daß ich sie noch nicht geschickt habe. Nicht, daß mir das etwas ausmacht, aber er ist sicher in der Lage, einem von Ihnen Unannehmlichkeiten zu machen, wenn er möchte.«
Ich war ein bißchen verärgert. Die Zwillinge waren seit drei Tagen in Hampden und hatten sich nicht einmal gemeldet. Als ich von Julian kam, ging ich deshalb bei ihnen vorbei, aber sie waren nicht zu Hause.
Beim Essen waren sie an diesem Abend auch nicht. Niemand war da. Wenigstens mit Bunny hatte ich gerechnet. Auf dem Weg zur Mensa schaute ich bei ihm vorbei und traf Marion, die gerade seine Zimmertür abschloß. Sie teilte mir ziemlich offiziös mit, sie beide hätten etwas zusammen vor und würden erst spät zurück sein.
Also aß ich allein und kehrte in der verschneiten Dämmerung in mein Zimmer zurück, erfüllt von einem säuerlichen Gefühl, als wäre ich das Opfer irgendeines dummen Streiches. Um sieben rief ich Francis an, aber er meldete sich nicht. Bei Henry war auch niemand.
Ich las bis Mitternacht Griechisch. Als ich mir die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte und bereit war, ins Bett zu gehen, lief ich nach unten und rief noch einmal an. Immer noch meldete sich nirgends jemand. Ich bekam nach dem dritten Versuch meinen Vierteldollar zurück und warf ihn in die Höhe. Dann kam ich auf den Gedanken, Francis’ Nummer auf dem Land zu wählen.
Auch dort meldete sich niemand; aber irgend etwas veranlaßte mich, länger zu warten, als ich es hätte tun sollen, und schließlich, nachdem es etwa dreißigmal geklingelt hatte, klickte es, und Francis meldete sich barsch: »Hallo?« Er ließ seine Stimme tiefer klingen, um sie zu verstellen, aber mich täuschte er nicht; er konnte es nicht ertragen, ein Telefon einfach klingeln zu lassen, und ich hatte ihn diese alberne Stimme schon mehr als einmal benutzen hören.
»Hal lo ?« sagte er noch einmal, und die gezwungene Tiefe seines Tonfalls zerfiel am Ende zu einem Zittern. Ich drückte auf die Gabel, und die Leitung war tot.
Ich war müde, aber ich konnte nicht schlafen; mein Ärger und meine Ratlosigkeit verstärkten sich, angestachelt von einem lächerlichen Gefühl des Unbehagens. Ich machte Licht und schaute meine Bücher durch, bis ich einen Roman von Raymond Chandler fand, den ich von zu Hause mitgebracht hatte. Ich kannte ihn schon und dachte, nach ein oder zwei Seiten würde ich sicher einschlafen, aber das meiste hatte ich doch vergessen, und ehe ich mich versah, hatte ich erst fünfzig, dann hundert Seiten gelesen.
Ein paar Stunden vergingen, und ich war hellwach. Die Heizung lief mit voller Kraft, und die Luft in meinem Zimmer war heiß
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