Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Praxis des Augenarztes anhalten wollte, schüttelte er sich und schaute mich verständnislos an. »Was ist?«
»Wann soll ich dich abholen?«
Henry warf einen Blick hinaus auf das niedrige graue Gebäude und auf das Schild davor, auf dem stand: OPTOMETRY GROUP OF HAMPDEN.
»Guter Gott«, sagte er schnaubend und mit einem überraschten, bitteren kleinen Auflachen. »Fahr weiter.«
Ich ging an diesem Abend früh schlafen, gegen elf schon. Um zwölf weckte mich ein lautes, beharrliches Hämmern an der Haustür. Ich blieb liegen und lauschte ein paar Augenblicke lang; dann stand ich auf, um nachzusehen, wer es war.
Im dunklen Flur begegnete ich Henry; er war im Bademantel und fummelte mit seiner Brille herum. Er hatte eine seiner Kerosinlaternen dabei, und sie warf lange, gespenstische Schatten an die Wände des engen Flurs. Als er mich sah, legte er einen Finger an den Mund. Wir standen im Gang und lauschten. Der Lampenschirm war geisterhaft, und wie wir so regungslos dastanden in unseren Bademänteln, schlaftrunken und von Schatten umzuckt, war mir, als sei ich aus einem Traum in einen anderen, noch entlegeneren erwacht, in irgendeinem bizarren Kriegsbunker des Unbewußten.
Lange, so schien es, standen wir da, lange nachdem das Hämmern aufgehört und knirschende Schritte sich entfernt hatten. Henry schaute mich an, und wir schwiegen noch einen Moment lang. »Jetzt ist alles in Ordnung«, sagte er schließlich und wandte sich abrupt ab; das Lampenlicht hüpfte irrwitzig um ihn herum, als er in sein Zimmer zurückging. Ich wartete noch einen Augenblick im Dunkeln, und dann ging ich auch wieder zurück in mein Bett.
Am nächsten Tag gegen drei Uhr nachmittags stand ich in der Küche und bügelte ein Hemd, als es wieder an der Haustür klopfte. Ich ging in den Flur und sah Henry.
»Findest du, daß das wie Bunny klingt?« fragte er leise.
»Nein«, sagte ich. Diesmal war das Klopfen ziemlich leicht; Bunny prügelte immer auf die Tür ein, als wollte er sie einschlagen.
»Geh zum Seitenfenster und sieh nach, ob du erkennen kannst, wer es ist.«
Ich ging ins Vorderzimmer und schob mich vorsichtig an der Wand entlang; weil es keine Gardinen gab, war es schwer, an die gegenüberliegenden Fenster zu gelangen, ohne sich sehen zu lassen. Sie bildeten eine stumpfen Winkel zur Haustür, und ich
konnte lediglich die Schulter eines schwarzen Mantels und einen Seidenschal erkennen, der vom Wind nach hinten geweht wurde. Ich schlich mich durch die Küche zurück zu Henry. »Ich kann’s nicht richtig sehen, aber es könnte Francis sein«, meinte ich.
»Oh, du kannst ihn hereinlassen, denke ich«, sagte Henry, und er wandte sich ab und kehrte in sein Zimmer zurück.
Ich ging wieder nach vorn und machte die Tür auf. Francis schaute gerade über die Schulter; vermutlich fragte er sich, ob er wieder gehen sollte. »Hi«, sagte ich.
Er drehte sich um und erblickte mich. »Hallo!« sagte er. Sein Gesicht schien sehr viel schmaler und schärfer geworden zu sein, seit wir uns das letztemal gesehen hatten. »Ich dachte, es ist niemand zu Hause. Wie geht’s dir?«
»Prima.«
»Du siehst aber ziemlich schlecht aus, finde ich.«
»Du siehst auch nicht so gut aus«, sagte ich und lachte.
»Ich habe gestern abend zuviel getrunken, und jetzt habe ich Magenschmerzen. Ich will deine ungeheure Kopf wunde sehen. Wirst du eine Narbe behalten?«
Ich führte ihn in die Küche und schob das Bügelbrett zur Seite, damit er sich setzen konnte. »Wo ist Henry?« fragte er und zog die Handschuhe aus.
»Hinten.«
Er wickelte sich den Schal vom Hals. »Ich sage rasch mal hallo; ich bin gleich zurück«, erklärte er munter und huschte davon.
Er blieb lange weg. Ich hatte angefangen, mich zu langweilen, und mein Hemd war fast fertig gebügelt, als ich plötzlich hörte, wie Francis’ Stimme lauter wurde und eine hysterische Schärfe bekam. Ich stand auf und ging ins Schlafzimmer, damit ich besser verstehen konnte, was er sagte.
» ... denkst du dir? Mein Gott, er ist vielleicht in einem Zustand! Du kannst mir nicht erzählen, daß du weißt, wozu er imstande ...«
Dann leises Gemurmel, Henrys Stimme, und gleich hörte ich Francis wieder.
»Das ist mir egal«, sagte er hitzig. »Herrgott, aber du hast es jetzt getan. Ich bin zwei Stunden in der Stadt, und schon ... Das ist mir egal «, wiederholte er auf einen gemurmelten Einwand von Henry hin. »Außerdem ist es dazu ein bißchen spät, nicht wahr?«
Stille. Dann begann
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