Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
ich unsicher, nachdem wieder eine ganze Weile verstrichen war. Allmählich dämmerte mir die unbehagliche Vermutung, daß die ganze Angelegenheit womöglich mit irgendwelchen Sexgeschichten zusammenhing, von denen ich besser nichts wußte. Ich betrachtete Bunnys Gesicht von der Seite: nörgelig, reizbar, die Brille weit vorn auf der spitzen kleinen Nase, beginnende Hängebacken am Unterkiefer. Ob Henry sich in Rom an ihn herangemacht hatte? Unglaublich – aber eine denkbare Hypothese. Wenn ja, war ganz sicher der Teufel los gewesen. Ich konnte mir nicht viel anderes vorstellen, was derartig viel Getuschel und Heimlichtuerei mit sich gebracht oder was eine so starke Wirkung auf Bunny gehabt hätte. Er war der einzige von uns, der eine Freundin hatte, und ich war ziemlich sicher, daß er mit ihr schlief, aber gleichzeitig war er unglaublich prüde – empfindlich, leicht beleidigt und im Grunde seines Herzens ein Heuchler. Außerdem hatte es fraglos etwas Sonderbares, wie Henry ständig Geld für ihn ausgab: Er kam für seine Schulden auf, bezahlte seine Rechnungen und versorgte ihn mit Bargeld wie ein Ehemann seine verschwenderische Frau. Vielleicht hatte Bunny sich von seiner Habgier überwältigen lassen und entdeckte jetzt zu seinem Zorn, daß Henrys Großzügigkeit mit gewissen Bedingungen verknüpft war.
Aber war sie das denn? Sicher verknüpfte sich irgend etwas damit, aber – so naheliegend das alles auf den ersten Blick erschien – ich war doch nicht sicher, daß diese speziellen Verknüpfungen gerade dorthin führten. Da war natürlich diese Sache mit Julian im Korridor; aber das war doch etwas ganz anderes gewesen. Ich hatte einen ganzen Monat bei Henry gewohnt, und es hatte nicht den leisesten Hinweis auf etwas in der Art gegeben, das ich, der ich diesen Dingen eher abgeneigt bin, doch ziemlich rasch bemerke. Bei Francis hatte es mich ziemlich heftig angeweht, und einen Hauch davon hatte ich zuweilen auch bei Julian verspürt; selbst Charles, von dem ich wußte, daß er sich für Frauen interessierte, war ihnen gegenüber von einer naiven, knabenhaften Schüchternheit, die ein Mann wie mein Vater in alarmierender Weise gedeutet hätte – aber bei Henry: Null. Kein Ausschlag auf dem Geigerzähler. Wenn überhaupt jemand, so war es Camilla, der seine Zuneigung gehörte, Camilla, über die er sich aufmerksam beugte, wenn sie etwas sagte, Camilla, die öfter als alle anderen Empfängerin seines seltenen Lächelns war.
Und selbst wenn es eine Seite bei ihm gab, von der ich nichts wußte (was ja sein konnte), wäre es dann Bunny, zu dem er sich
hingezogen fühlte? Die Antwort darauf schien mir beinahe ohne jeden Zweifel zu sein: nein. Er benahm sich nicht nur, als fühle er sich nicht zu ihm hingezogen, sondern tat sogar, als könne er ihn kaum ausstehen. Und ich konnte ihm das in dieser speziellen Hinsicht durchaus nachempfinden: Bunny mochte vielleicht allgemein gesprochen ganz gut aussehen, aber er hatte doch auch diese Aura von sauer riechenden Hemden und verfettenden Muskeln und schmutzigen Socken. Mädchen schien dergleichen nicht sonderlich zu stören, aber auf mich wirkte er ungefähr so erotisch wie ein alter Fußballtrainer.
Plötzlich war ich sehr müde. Ich stand auf. Bunny starrte mich mit offenem Mund an.
»Ich werde schläfrig, Bun«, sagte ich. »Vielleicht sehen wir uns morgen.«
Er blinzelte. »Hoffentlich hast du diesen verdammten Bazillus nicht auch erwischt, mein Alter«, sagte er knapp.
»Das hoffe ich auch«, sagte ich und hatte plötzlich unerklärliches Mitleid mit ihm. »Gute Nacht.«
Ich erwachte am Donnerstag morgen um sechs und wollte noch ein bißchen Griechisch üben, aber mein Liddell and Scott war nirgends zu finden. Ich suchte und suchte, und mit Schrecken fiel mir ein: Das Buch war bei Henry zu Hause. Ich hatte beim Packen gemerkt, daß es nicht da war; aus irgendeinem Grund war es nicht bei meinen anderen Büchern gewesen. Ich hatte eine hastige, aber ziemlich sorgfältige Suchaktion gestartet, aber schließlich wieder abgebrochen und mir vorgenommen, später noch einmal zurückzukommen. Jetzt war ich in einer ziemlich ernsten Klemme. Die erste Griechischstunde war erst am Montag, aber Julian hatte mir ziemlich viel aufgegeben, und die Bibliothek war noch geschlossen, da man dabei war, die Katalogisierung von Dewey Decimal auf das System der Library of Congress umzustellen.
Ich ging hinunter und wählte Henrys Nummer; wie erwartet, meldete sich niemand. Die
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