Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Heizkörper klopften und zischten metallisch im zugigen Flur. Während es zum dreißigsten Mal klingelte, fiel mir plötzlich ein: Wieso nicht rasch nach North Hampden hinüberlaufen und das Buch holen? Er war nicht da – vermutlich wenigstens nicht –, und ich hatte einen Schlüssel. Es wäre für ihn eine lange Fahrt von Francis hierher zurück. Wenn ich mich beeilte, könnte ich in einer Viertelstunde dort sein. Ich hängte ein und lief aus dem Haus.
Im frühen Morgenlicht sah Henrys Wohnung verlassen aus; sein Wagen stand weder in der Einfahrt noch an einem der Plätze an der Straße, wo er gern parkte, wenn niemand wissen sollte, daß er zu Hause war. Um sicherzugehen, klopfte ich trotzdem an. Niemand antwortete. Ich hoffte, daß er nicht im Bademantel im Flur stehen und hinter der Tür hervorspähen würde, als ich behutsam den Schlüssel im Schloß drehte und eintrat.
Es war niemand da, aber das Apartment war in einem wüsten Zustand – überall Bücher, Papiere, leere Kaffeetassen und Weingläser; eine dünne Staubschicht lag auf allem, und der Wein in den Gläsern war zu dicken, dunkelroten Flecken am Boden eingetrocknet. In der Küche türmte sich schmutziges Geschirr; die Milch stand nicht im Kühlschrank und war schlecht geworden. Henry war im allgemeinen reinlich wie ein Kater, und solange ich dort gewohnt hatte, hatte ich nie erlebt, daß er einmal den Mantel ausgezogen und nicht gleich aufgehängt hätte.
Nervös und mit dem Gefühl, an den Tatort eines Verbrechens gestolpert zu sein, suchte ich eilig die Zimmer ab; meine Schritte hallten laut durch die Stille. Bald hatte ich mein Buch gefunden; es lag auf dem Tisch im Flur – einer der nächstliegenden Orte, an denen ich es hätte liegenlassen können. Wie konnte ich es übersehen haben? dachte ich; ich hatte überall nachgeschaut, als ich ausgezogen war. Hatte Henry es vielleicht gefunden und für mich herausgelegt? Ich raffte es hastig an mich und war schon halb draußen – ich war wie gehetzt und brannte darauf zu verschwinden –, als mein Blick auf einen Zettel fiel, der ebenfalls auf dem Tisch lag.
Die Handschrift war diejenige Henrys.
TWA 219
795 × 4
Eine Telefonnummer mit der Vorwahl 617 war unten von Francis dazugeschrieben worden. Ich nahm das Blatt und studierte es. Die Notizen standen auf der Rückseite einer Fristüberziehungsmitteilung der Bibliothek, die nur drei Tage alt war.
Ohne recht zu wissen, warum, legte ich meinen Liddell and Scott wieder hin und ging mit dem Blatt ins vordere Zimmer zum Telefon. Die Vorwahlnummer gehörte zu Massachusetts; wahrscheinlich war es Boston. Ich sah auf die Uhr und wählte die Telefonnummer. Mit den Gebühren ließ ich Dr. Rolands Büro belasten.
Ich wartete, es klingelte zweimal, klickte dann. »Sie sind verbunden mit der Anwaltskanzlei Robeson Taft in der Federal Street«, informierte mich ein Anrufbeantworter. »Unser Telefon ist nicht besetzt. Bitte rufen Sie während der Bürozeiten zwischen neun und ...«
Ich legte auf und starrte auf den Zettel. Dann griff ich wieder zum Hörer und ließ mir von der Auskunft die Nummer der TWA geben.
»Hier spricht Mr. Henry Winter«, sagte ich der Telefonistin. »Ich rufe an, um, äh, meine Reservierung zu bestätigen.«
»Einen Moment bitte, Mr. Winter. Wie lautet Ihre Reservierungsnummer?«
»Äh ...« Ich überlegte hastig und ging hin und her. »Ich kann sie gerade nicht finden; vielleicht könnten Sie einfach ...« Dann sah ich die Zahl in der oberen rechten Ecke meines Zettels. »Warten Sie, vielleicht ist sie das hier: 219?«
Ich hörte, wie Tasten an einem Computer gedrückt wurden. Ich tappte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und hielt durch das Fenster nach Henrys Wagen Ausschau. Dann besann ich mich erschrocken: Henry hatte seinen Wagen gar nicht. Ich hatte ihn nicht zurückgebracht, nachdem ich ihn am Sonntag ausgeborgt hatte; er parkte noch hinter den Tennisplätzen, wo ich ihn abgestellt hatte.
In einem panischen Reflex hätte ich beinahe aufgelegt – wenn Henry seinen Wagen nicht hatte, dann konnte ich ihn auch nicht hören: Vielleicht war er in diesem Augenblick schon auf dem Weg zur Haustür –, aber da meldete sich die Telefonistin wieder. »Alles in Ordnung, Mr. Winter«, sagte sie munter. »Hat Ihnen Ihr Reisebüro denn nicht gesagt, daß Sie die Reservierung nicht zu bestätigen brauchen, wenn Sie die Tickets weniger als drei Tage im voraus kaufen?«
»Nein«, sagte ich ungeduldig und wollte
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