Die geheime Reise der Mariposa
Bären an einem Bein über die Reling hängen. Dann drückte er ihn plötzlich an sich wie ein Kind. »Ich kann es nicht. Er und ich, wir sind die Einzigen der Familie, die jene Nacht überlebt haben.«
José nickte. »Erzähl mir«, sagte er leise. »Erzähl mir, was in der Nacht geschehen ist. Vielleicht wird die Erinnerung dann leichter.«
Jonathan streichelte mit einem Finger Carmen, die neben ihm saß und am letzten Rest eines trockenen Brotkantens nagte. Er schwieg so lange, dass José schon dachte, er würde nichts erzählen.
»Wir hatten jeder einen Koffer«, sagte er dann unvermittelt. »Mit unseren wichtigen Sachen. Er stand neben der Haustür. Man brauchte ihn nur zu greifen, wenn Bombenalarm war. Sogar Julia hatte ihren Koffer. Es gab dauernd Probealarm. Dann mussten wir alle hinüber, zum Nachbarhaus, Nummer 21. Es war wie ein Spiel. Der ganze Krieg war wie ein Spiel. Eine Zeit lang. Und dann …«
»Ja?«
»Dann erfuhren wir, dass Papa vermisst wurde. In Frankreich. Er ist nicht zurückgekommen. Vermutlich … liegt er dort irgendwo in einem Massengrab. Eine Weile hat Mama fast nicht mehr mit uns gesprochen. Mit gar niemandem. Und dann fing sie wieder von den Galapagosinseln an. Wie schön alles wäre, wenn wir dorthin gegangen wären, ehe der Krieg anfing. Sie holte die alten Bücher hervor, die wir uns so oft zusammen angesehen hatten. Sie sprach von ihrem Professor. Professor Blumenhaus.« Er biss sich auf die Zunge. Hatte José gemerkt, dass Blumenhaus ein deutscher Name war? Nein, offenbar nicht. »›Der hat es richtig gemacht‹, hat Mama gesagt«, fuhr er rasch fort. »›Er ist rechtzeitig aus … England … verschwunden. Sicher‹, sagte sie, ›ist er irgendwo auf den Galapagosinseln und sucht nach seinem blauen Schmetterling mit den Goldflecken. Er ist frei.‹ Und immer, wenn sie unsere Koffer ansah, seufzte sie. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie gut es gewesen wäre, diese Koffer auf ein Schiff über den Pazifik zu tragen. Aber selbst Julia war klar, dass Mama nur träumte. Dann fielen die ersten Bomben auf die Stadt. ›Jetzt dauert es nicht mehr lange‹, sagte Mama, ›und sie fallen auch auf unsere Straße. Lasst sie nur alles kaputt machen. Soll doch alles brennen!‹ Sie wollte es. Verstehst du? Sie wollte, dass unser Haus brannte. Es war verrückt. Sie sehnte sich nach dem nächsten Fliegeralarm. Sie lachte über die unsinnigsten Dinge. Als wüsste sie, dass sie nicht mehr lange lachen könnte. Und dann kam diese Nacht im Mai. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Koffer oben auf der Treppe stehe. Mama ruft nach mir. Ich renne … dann stehe ich draußen. Der Mond scheint. Er bescheint Julia und ihren Teddybären. Und Mamas Gesicht. Sie lächelt. Sie trägt Papas alte Mütze. Ihr Haar ist so hell, hell wie der Mond. Sie zerzaust mein Haar, als wäre ich noch klein.
Sie nimmt Julia an der Hand. ›Halt deinen Bären gut fest‹, sagt sie, ›denn jetzt rennen wir.‹ Und dann höre ich die Flugzeuge, fast direkt über uns. Ich höre, dass ein Haus in der Nähe getroffen ist. Ich renne. So, wie sie es gesagt hat. Ich höre die Sirenen. Irgendwo prasseln Flammen. Da ist noch ein Geräusch, ein Motorengeräusch. Wie von einem Auto. Aber natürlich fährt keiner Auto bei einem Bombenangriff, nicht wahr? Ich drehe mich nicht um, ich renne. Mama und Julia sind irgendwo hinter mir. Ich stolpere Stufen hinunter … hämmere gegen die Tür des Kellers … jemand öffnet sie, zerrt mich hinein und wirft sie sofort wieder zu. Das Heulen der Sirenen wird leiser.« Er sah auf, sah José an, schwer atmend. »Und als ich mich umgedreht habe, waren Mama und Julia nicht da. Ich wollte die Tür noch einmal öffnen. Richard hat mich festgehalten. Er war schon achtzehn. Er war verantwortlich für den Luftschutzkeller.
»Er … er hat sie draußen an die Tür hämmern lassen und ihnen nicht geöffnet?«
Jonathan schien zu überlegen. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. »Ich habe kein Klopfen gehört. Aber es war alles so laut … Kurz danach wurde der Häuserblock getroffen. Und am nächsten Tag fand ich den Bären und die Mütze vor dem Eingang zum Luftschutzkeller. Sie müssen die Sachen verloren haben. Ich denke, sie sind zurück ins Haus gerannt. Drinnen ist alles verbrannt, alles …« Jonathan sah zu Boden. »Nein«, murmelte er leise. »Es wird nicht besser, wenn man es erzählt.«
José legte einen Arm um ihn wie um einen kleinen Bruder und eine Weile saßen sie schweigend
Weitere Kostenlose Bücher