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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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so. Seltsam, dachte José, aber etwas an Jonathans Geschichte stimmte nicht. Er konnte den Finger nicht darauflegen, aber etwas war falsch. Er fragte sich, ob Jonathan log oder ob er selbst gar nicht gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Er würde noch daraufkommen, dachte José, wenn er nur oft genug die gleiche Geschichte in seinem Kopf abspielte … Jonathans Vater … die Koffer … die Sirenen … die Nacht … der Teddybär …
    Der Wind hatte nachgelassen, als dächte auch er über Jonathans Geschichte nach.
    »Vielleicht haben sie nicht an die Tür des Kellers geklopft«, flüsterte Jonathan. »Vielleicht waren sie gar nicht hinter mir, Mama und Julia – das ist es, was mich am meisten erschreckt. Vielleicht ist Mama einfach auf der Straße geblieben. Mitten auf der Straße. Seit Papa tot war, war alles so anders. Als hätte das Leben keinen Wert mehr. Vielleicht hat sie Julia mitgenommen, in den Tod. Nur mich, mich hat sie hiergelassen.«
    »Nein«, sagte José langsam. »Das … das glaube ich nicht. Sie hätte dich nicht dagelassen. Eine Mama lässt keine Kinder da. Mama Carmelita, meine Mutter – sie würde mich windelweich prügeln, wenn sie wüsste, dass ich allein aufs Meer hinausgesegelt bin.«
    Er schob den Gedanken an seine Mutter beiseite. Er würde doch jetzt nicht anfangen, Heimweh zu bekommen wie ein dummes Kind. Er ließ seinen Blick über das Wasser gleiten.
    »Jonathan«, sagte er und sprang auf. »Sieh nur! Dort! Sie kommen her.«
    Jonathan hob den Kopf. »Wer?«, fragte er erschrocken.
    José lächelte. »Die Delfine. Vielleicht sind sie gekommen, um dich aufzumuntern.«
    Ja, dachte Jonathan, vielleicht waren die Delfine tatsächlich gekommen, um ihn jene Nacht in Hamburg vergessen zu lassen, das Feuer, den Krieg und den Tod. Sie waren das Gegenteil von alldem. Ihre glänzenden Rücken tauchten aus dem Wasser wie Lichtblitze, und jetzt waren sie ganz nah, schwammen um die Mariposa herum, tauchten unter ihr hindurch und kamen auf der anderen Seite wieder hervor – sie sprangen übermütig durch die Luft, sorglos, verspielt. Der Wind war eingeschlafen und die Mariposa hing still auf dem unendlichen Wasser. Die Delfine kamen so dicht an die honigfarbenen Holzwände heran, dass Jonathan ihre langen, schnabelartigen Schnauzen mit den winzigen Zähnen erkennen konnte. Er zählte sieben Tiere. Eines versuchte das Schiff mit seiner Nase anzustupsen, und ein paar andere gaben übermütige schnatternde Laute von sich.
    »Hör dir das an«, sagte José. »Sie lachen. Sie lachen über uns. Weil wir nicht vorankommen.«
    Er rollte die Fock wieder ganz aus und vergrößerte die Fläche des Großsegels, doch es half alles nichts: Die Mariposa stand.
    Jonathan dachte daran, was Mama über die Delfine erzählt hatte.
    »Denkt euch«, hatte sie gesagt, »angeblich erlauben sie es manchmal, dass man sich an ihrer Rückenflosse festhält, und ziehen einen mit sich.«
    »Das will ich machen!«, hatte Julia gerufen. »Ich will mit einem Delfin im Wasser planschen! Er soll mich ziehen, ganz weit, mitten durchs Meer …«
    »José«, sagte Jonathan, »wenn wir sowieso nicht vorankommen – hättest du etwas dagegen, wenn ich eine Runde schwimme?«
    José zögerte. »Das letzte Mal, als du ins Wasser gesprungen bist, wolltest du sterben«, sagte er leise. »Du fängst nicht wieder damit an, oder? Sterben zu wollen?«
    »Vorerst nicht«, antwortete Jonathan ernst.
    »Gut«, meinte José. »Dann spring ruhig rein. Sie warten auf dich.«
    Es sah tatsächlich aus, als warteten die Delfine. Sie reckten erwartungsvoll die Hundeschnauzen aus dem Wasser und schnatterten wieder. Jonathan legte die Schiebermütze neben Julias Teddybären auf die Bank und stellte einen Fuß auf die Reling. Seine Lippen formten lautlose Worte auf Deutsch: Jetzt werde ich das tun, sagte er, was du wolltest, Julia. Ich werde mit den Delfinen schwimmen. Ich denke ganz fest an dich, und es wird sein, als wärst du bei mir. Bist du bereit? Eins, zwei …
    »Warte!«, rief José. »Zieh die Kleider aus! Wir brauchen nicht noch mehr nasse Sachen an Bord.«
    »Ich schwimme lieber mit den Sachen«, sagte Jonathan sehr entschlossen und sprang ins Wasser. Er wusste, dass José jetzt auf dem Schiff saß und den Kopf über ihn schüttelte. Sollte er nur den Kopf schütteln! Die Delfine stoben auseinander, als er zwischen ihnen im Meer landete. Doch sie kehrten zurück, nahmen ihn in die Mitte und schwammen tatsächlich mit ihm. Wie schnell sie waren!

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