Die geheime Reise der Mariposa
die Mädchen.«
»Die Mädchen«, wiederholte Jonathan. »Wie sind sie so hier, auf den Inseln?«
Er sah zu, wie die Asche von der Spitze seiner Zigarette fiel. José hatte aufgehört, darauf zu achten, was er mit der Zigarette tat. Jonathan sah seine dunklen Augen aufleuchten.
»Sie sind … tausend Dinge«, antwortete José. »Schön wie die Flamingos. Stolz wie die Fregattvögel. Würdevoll wie die Pinguine. Verspielt wie die Delfine. Störrisch wie die wilden Esel. Wenn du zu weich bist, machen sie sich lustig über dich. Sie machen sich gern lustig. Sie tun, als wären sie schüchtern, verstecken ihre Beinen in tausend Unterröcken … und wenn du an ihnen vorbeigehst, dann richten sie es so ein, dass die Röcke ein wenig hochrutschen und du ihre Knie siehst. Die Mädchen auf den Inseln haben wunderbare Knie.«
»Knie«, wiederholte Jonathan. »Sind Knie das Äußerste, was du von ihnen zu sehen kriegst?«
»Na ja …«, sagte José. »Einmal, im Stall, da hab ich meinen Bruder mit einer beobachtet. Maria. Sie hat eine Weile auf der Farm geholfen. Dios! An der waren die Knie das Langweiligste. Die hatte Brüste, von denen kannst du nur träumen! Sie stand ganz nackt da, mitten im Stall, zwischen unseren Pferden, wie auf einem Bild. Und dann hat sie sich hingekniet, da ins Stroh …« Er verstummte.
»Und weiter?«
»Dann hat mein Bruder mich entdeckt und rausgeschmissen.« Er seufzte. »Er hat mir Prügel angedroht, wenn ich was sage. Mir braucht man nicht zu drohen. Ein echter Mann kann seinen Mund halten.« Er wandte den Kopf und sah Jonathan an. »Hast du schon mal eine geküsst? In Europa?«, fragte er.
Jonathan lachte. »Nein. Du?«
José schüttelte den Kopf. »Bei einer hab ich’s mal versucht, die hat mich ausgelacht und gesagt, ich wäre noch ein Kind. Aber wenn ich zurückkomme nach Isabela – wenn ich auf der Isla Maldita war und mit den Amis geflogen bin –, dann ist das das Erste, was ich tun werde. Ein Mädchen küssen. So eine mit ganz weichen Lippen, rot müssen sie sein und …«
Doch Jonathan erfuhr nicht, was die Lippen der Galapagosmädchen noch sein mussten, denn José war aufgesprungen und zeigte hinter sie. »Sie sind näher gekommen!«
Jonathan folgte seinem Blick. Die beiden Schiffe, die sie verfolgten, waren ein gutes Stück herangerückt. Sie hatten es aufgegeben, so zu tun, als würden sie der Mariposa nicht folgen. Die Sonne zog die letzten Schlieren des Tageslichts mit sich hinter den Horizont. Ein Windstoß fegte durch die Stille, und ein Tropfen landete auf seinen Lippen, den nicht roten, nicht weichen Lippen. Er sah zum Himmel empor. Es war nicht nur die hereinbrechende Nacht, die ihn verdunkelte.
»José«, sagte er leise. »Ich weiß, warum sie näher kommen. Guck dir das da oben an.«
José nickte grimmig. Es war nicht nur Regen, den die Wolken heranbrachten. Sie trugen einen Sturm in sich, einen ausgewachsenen Sturm.
»Wer immer die dort sind«, sagte Jonathan und zeigte zu den Schiffen hinüber. »Was immer sie wollen. Sie haben sich ausgerechnet, dass nichts mehr übrig bleibt, wenn dieser Sturm mit uns fertig ist.«
Und tatsächlich sah es so aus, als hätten die Skipper der beiden Schiffe es sich in den Kopf gesetzt, die Mariposa vor Einbruch des Sturms zu erreichen. Sie fuhren unter Motor, der kleine Segler voran. Hatten sie sich abgesprochen? Oder war es ein Wettrennen, das sie dort veranstalteten, ein Rennen, dessen Sieger zum Preis die Mariposa bekäme und vielleicht die Karte einer mysteriösen unbewohnten Insel?
Die Böen legten die Mariposa auf die Seite, die Wellen wuchsen und hatten mit einem Mal Schaum vor dem Maul wie tollwütige Tiere. Von einem Moment auf den anderen warf der Pazifik seine Abendromantik ab, wie eine Schlangenhaut, und wurde zum Raubtier, vielzähnig, gierig. Es war jetzt so dunkel, dass man das Raubtier kaum noch sah, nur die Schaumkronen strahlten weiß, wie von innen beleuchtet. José pflückte die Hecklaterne von der Reling, entzündete sie und machte sie mittschiffs am Kajütendach fest. »Rasch!«, befahl er. »Die Segel! Wir müssen die Segel runterholen. Stell sie in den Wind, ich mach das.«
Jonathan versuchte die Mariposa so zu steuern, dass der Wind von vorn kam, und die Segel begannen wild hin und her zu schlagen.
»Mierda!«, schrie José. »Es geht nicht!«
Jonathan sah, wie er sich geduckt an die Reling klammerte. »Bring sie zurück auf Kurs! Ganz dicht am Wind! Ich muss erst nach vorn zum Mast, ehe mich
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