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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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der schmalen, dreckigen Matratze liegen. Es war, als hörte der Sturm für einen Moment auf zu existieren. Die Nacht verschwand. Der ganze Pazifik war nicht mehr da. Es gab nur diesen winzigen Raum unter Deck und Jonathan und den fremden Mann.
    Der Mann spielte mit der schwarzen Pistole. »Casaflora«, sagte er. »Juan Casaflora.«
    »Jonathan Smith«, sagte Jonathan automatisch. »Sie sind … der Tote. Aber Sie sind nicht tot.«
    Casaflora schüttelte den Kopf. »Und du bist nicht Jonathan«, sagte er.
    Jonathan schwieg.
    »Ich bin nicht so dumm«, fuhr Casaflora fort, »wie dein Freund da draußen. Und jetzt, wo wir vielleicht alle zusammen untergehen, will ich die Wahrheit wissen.«
    Er legte die Pistole auf den Tisch. Er brauchte sie nicht. Er streckte eine Hand aus und Jonathan wollte einen Schritt zurückmachen … aber dafür war kein Platz. Er stand bereits mit dem Rücken zur Wand. Casaflora riss ihm mit einer einzigen raschen Bewegung das Hemd vom Leib, er hörte den Stoff reißen, fühlte, wie er an ihm hinunterglitt. Noch eine Bewegung der Hand, die gürtellose Hose folgte, wieder riss Stoff, der Stoff von zu oft getrockneter, meersalzstarrer Unterwäsche. Und dann stand er nackt, splitterfasernackt, im Taschenlampenlicht. Das Licht war kalt.
    Casaflora pfiff durch die Zähne.
    »Dachte ich es mir doch.«
    Er streckte die Hand ein weiteres Mal aus. Jonathan, der nicht Jonathan war, wollte etwas tun, nach der Hand schlagen, zur Seite springen, irgendetwas – doch es war, als wäre sein Körper versteinert. Die letzten Worte hatte Casaflora auf Deutsch gesagt. Und er selbst hatte auf Deutsch geflucht, vor Sekunden. Es schien Stunden her. Der geflucht hatte, war noch Jonathan Smith gewesen. Und jetzt, jetzt war alles anders.
    »Du bist aus Deutschland, wie ich«, sagte Casaflora. »Du bist eine verfluchte kleine deutsche Schwindlerin.«

Lied der Seelöwen
    Wer uns je zu nahe kam,
    hält uns für erstaunlich zahm.
    Wir fliehn nicht, wenn ein Schiff sich näh’rt,
    wir schwimmen ihm entgegen.
    Wir fühl’n uns durch Besuch geehrt,
    Besuch kommt uns gelegen.
    Wir zeigen gerne unsren Gästen,
    wo man auf guten Fischgrund stößt
    und wo man nach dem Mahl am besten
    im warmen Sande döst.
    Wer uns je zu nahe kam,
    hält uns für erstaunlich zahm.
    Wir schwimmen mit dem Gast im Kreise,
    wir lehr’n ihn jeden Tauchertrick
    und lachen nur dezent und leise
    über sein Ungeschick.
    Wir schlafen voller Glück und Wonne
    auf Bänken, die der Mensch erbaut,
    und aalen uns dort in der Sonne
    und schnarchen manchmal sogar laut.
    Der Mensch, so ohne Scheu und Scham,
    ist er nicht erstaunlich zahm?
    Er flieht nicht, wenn wir näher kommen,
    nein, ER schwimmt uns entgegen.
    Er wirkt nicht ängstlich, nicht beklommen:
    Kommt ihm Besuch gelegen?

Marit
Marit
    D
ein Freund da an Deck hat keine Ahnung, woher du kommst«, sagte Casaflora. »Oder?«
    »Nein«, flüsterte sie. »Er … er hasst alle Deutschen.«
    Casaflora lachte leise. »Tut er das? Wie heißt du wirklich?«
    »Marit«, wisperte sie, kaum hörbar. »Mein Onkel … er hat gesagt, es ist sicherer als Junge … und es war auch der Pass eines Jungen …«
    Casaflora nickte. »Natürlich. Viel sicherer. Einem Mädchen können zu viele Dinge zustoßen auf einer solchen Reise.« Er fasste sie nicht an, seine Hand verharrte in der Luft. Aber sie sah seine Augen.
    »Bitte …«, flüsterte Marit. »Bitte nicht!«
    »Wenn du nach deinem Freund schreist«, sagte Casaflora, »werde ich ihm wohl sagen müssen, woher du kommst …«
    Als könnte er mich hören, dachte Marit. Der Sturm war viel zu laut. In diesem Moment lief ein Ruck durch die Mariposa, das ganze Schiff schwankte – und sie verloren beide das Gleichgewicht. Marit fand sich auf dem Boden wieder, neben sich den alten Mann, zu nah, viel zu nah. Sein Atem roch nach kalten Zigaretten und ungewaschenen Kleidern. Die Taschenlampe war ebenfalls zu Boden gefallen, doch sie sah in ihrem Licht, dass die Mauser aus der geheimen Koje gekullert war. Aber sie kam nicht daran. Casafloras schwerer Körper lag zwischen ihr und der Mauser.
    »Wir gehen alle unter«, flüsterte er heiser, »und dann ist es aus mit uns. Es wäre doch schade, wenn wir nicht vorher …«
    Das Heulen des Sturms übertönte den Rest seiner Worte. Auch das Geräusch des prasselnden Regens war plötzlich wieder da. Jemand hatte die Kajütentür geöffnet.
    »Jonathan!«, schrie José. »Was ist hier los?«
    José hatte die Mariposa schließlich doch

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