Die geheime Reise der Mariposa
in den Wind gestellt. Sollte der andere Segler sie einholen. Wichtiger war, dass die Mariposa nicht volllief und sank. Wo blieb Jonathan? Etwas stimmte nicht. Er ließ das Steuer los, riss die Kajütentür auf und blieb einen Moment verwirrt stehen. Da war ein heller Fleck von Taschenlampenlicht an der Decke der Kajüte. Zwischen Tisch und Backbordbank klemmte seine Mauser. Die Klappe zu der verborgenen Koje stand offen und auf dem Boden direkt zu seinen Füßen lag die kleine schwarze Pistole. Dann sah er die beiden Körper, die ebenfalls auf dem Boden lagen, unter dem Tisch. Zwei Menschen, die vermutlich im Sturm das Gleichgewicht verloren hatten. Aber der Größere der beiden hatte das Gleichgewicht wiedergefunden, er kniete neben dem anderen und hielt ihn fest … Jonathans Kleider lagen in einem leblosen Haufen auf dem Boden. Draußen tobte der Sturm.
José hielt die Mauser in den Händen, ehe er sich überhaupt bewusst wurde, dass er sie aufgehoben und nachgeladen hatte. Er presste ihre kalte Schnauze in Casafloras Nacken.
»Lass ihn los!«, brüllte er gegen den Sturm an. »Sofort!«
Casaflora rappelte sich hoch, blickte in die Mündung des Gewehrs und hob die eine Hand. Mit der anderen klammerte er sich am Tisch fest, um nicht abermals das Gleichgewicht zu verlieren. José nahm mit der freien Hand die Pistole, ohne Casaflora aus den Augen zu lassen. Erst danach sah er Jonathan an, der ebenfalls aufgestanden war. Er hatte sein Hemd aufgehoben und drückte es an sich. Etwas stimmte mit Jonathans nacktem Körper unter dem Hemd nicht. José merkte, wie ihm schwindelig wurde.
»Du bist … du bist gar nicht … du warst nie … du bist …«, stotterte er.
»Ein Mädchen. Ja. Tut mir leid.«
José schüttelte den Kopf. Er konnte nicht klar denken. Das Großfall, dachte er. Das Messer. Der Sturm. Was auch immer seine Entdeckung bedeutete, jetzt war die Mariposa wichtiger. Er warf Jonathan – der Person, die Jonathan gewesen war – die Pistole zu und griff nach dem Messer, das die ganze Zeit stumm auf dem Regal gelegen hatte.
«Hat er dir etwas getan?«, fragte José.
Sie schüttelte den Kopf. José war rechtzeitig gekommen.
»Erschieß ihn«, sagte er ernst, »wenn es sein muss.«
Dann kletterte er zurück an Deck.
Aber niemand erschoss irgendwen in jener Nacht. Als José auf dem schwankenden Schiff zum Mast kletterte, mitten in Wellen und Gischt, mitten in Nacht und Chaos, sah er aus dem Augenwinkel, wie Casaflora ihm folgte. Er durchtrennte das Seil, das das Großsegel hielt, mit einem Schnitt, und dann waren da Hände, die ihm halfen, das Segel herunterzuzerren, Hände, die die Mariposa besser kannten als José. Hände, die das Segel am Baum festzurrten, rasch und effektiv.
»Wo ist …?«, begann José und wusste nicht, welchen Namen er Jonathan jetzt geben sollte.
»Schöpft das Wasser aus dem Boot!«, rief Casaflora.
»Der Motor!«, schrie José. »Er springt nicht an!«
Casaflora war bereits auf dem Weg zurück zum Heck und hockte gleich darauf auf den Knien im Wasser, duckte sich und kroch halb unter das Achterverdeck, um den Motor zu begutachten.
José kletterte zurück in die Kajüte und holte die Taschenlampe, damit Casaflora etwas erkennen konnte. Um sie herum tobte der Pazifik und warf die Mariposa umher wie ein Spielzeug. Ein Schiff, das nicht vorwärtsfährt, lässt sich nicht steuern, das war José klar. Wenn sie den Motor nicht anbekamen, würden die Wellen weiter von der Seite auf die Mariposa einschlagen und sie versenken. José sah sich nach einem zweiten Eimer um, doch es gab keinen. Er fand den Kochtopf in der Kajüte und half, Wasser zu schöpfen. Es stand kniehoch. Es ertränkte vermutlich auch den Motor. Er hörte Casaflora fluchen.
Sie arbeiteten wie die Irrsinnigen, doch jeden Eimer Wasser, den sie herausschöpften, spuckte der Pazifik sofort zurück.
Es hat keinen Zweck, dachte José. Wir werden sinken. Er blickte auf – und da sah er das andere Boot.
Der kleine Segler schoss durch die Wellen direkt auf sie zu. Er war jetzt so nah, dass man beinahe den Namen an der Bordwand lesen konnte, dunkelblaue Lettern auf weißem Grund. Der Name begann mit M, und die Buchstaben, die auf das M folgten, sahen dem Namen der Mariposa erstaunlich ähnlich … Wenn das Schiff weiter Kurs hielt, würde es die Mariposa in voller Fahrt rammen.
José sah, wie sich der Mast unter dem Gewicht des Windes bog. Er konnte sogar den Mann auf der Reling sehen, der sich weit, weit hinauslehnte,
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