Die geheime Reise der Mariposa
waren einzelne Inseln zu sehen. Eine davon war Bartolomé. Der Pinnacle Rock war auf Englisch eingetragen. Der Pinnacle Rock, auf den die Amis ihre Proberaketen abschossen.
Irgendwo auf diesem Blatt Papier, dachte José, musste auch die Isla Maldita sein. Aber er fand nirgends etwas, das dem Umriss auf seiner eigenen Karte glich. Dafür fand er Baltra. Die Insel war übersät mit kleinen Vierecken, Gebäuden voller Erklärungen in der winzigen Schrift. Er fand sogar die Landebahn.
Baltra. Der Militärstützpunkt der Amerikaner.
José besah sich die Zeichnung der mittelamerikanischen Küste noch einmal. Linien verbanden die Inseln, verbanden Baltra mit Bartolomé … verbanden die Inseln mit dem Festland. Panama. Ein Land mit einem Durchschlupf: dem Panamakanal. Die einzige Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik, wenn man nicht außen um Südamerika herumfahren wollte. Der Kanal, den die Amis von Baltra aus zu kontrollieren planten, damit keine deutschen oder japanischen U-Boote hindurchkamen.
Plötzlich fielen José wieder die Worte seines Vaters ein, die er damals, am Hafen auf Baltra, über Juan Casaflora gesagt hatte: Man hört, er wollte herausfinden, welchen Einfluss der Flugplatz auf die Gewohnheiten der Tiere hat …
Nein, dachte José. Juan Casaflora war auf Baltra gewesen, um etwas ganz anderes herauszufinden. Er hatte die Karte selbst gezeichnet. Was man darauf sehen konnte, war bekannt. Den Amerikanern. Und den Männern, die für sie arbeiteten, so wie Josés Vater und seine Brüder. Aber nicht einmal sie hatten von den Raketenübungen gewusst. Und die Deutschen – die Deutschen wussten womöglich von gar nichts.
Noch nicht.
Brauchten sie die Karte nur, um ihre U-Boote an den Kontrollpunkten der Amerikaner vorbeizuschmuggeln? Oder würden sie ihre Flugzeuge bis nach Baltra schicken, um die Insel zu beschießen? Die Baracken der Arbeiter, wo auch Josés Vater und seine Brüder des Nachts ahnungslos schliefen?
Casaflora, dachte José, war nicht nur ein Deutscher. Casaflora war ein deutscher Spion.
José stand auf und atmete tief durch. Er faltete das Blatt Papier, steckte es in die Tasche und lud die Mauser durch. Dann trat er einen Schritt zurück, stellte sich ganz gerade hin und zielte. Sein Finger lag am Hahn wie tausendmal zuvor, wenn er im Busch von Isabela auf wilde Bullen geschossen hatte, die die Felder zertrampelten. Er hatte noch nie auf einen Menschen geschossen.
Er schluckte. Er hatte gedacht, es wäre leicht: Du lädst, zielst, drückst ab. Aber es war nicht leicht. Er merkte, wie seine Hand begann, unkontrollierbar zu zittern. Ich lege sie alle um, hatte er gesagt, ihr werdet schon sehen … Er versuchte sich vorzustellen, wie dieser Mann vor ihm einfach nicht mehr aufstand. Wie er für immer liegen blieb. Wie er nie wieder eine Konservendose auf einem Schiff öffnete und nie wieder in seiner eigenen Sprache fluchte. Er konnte es sich nicht vorstellen. Das Zittern seiner Hände war jetzt so stark geworden, dass es seinen ganzen Körper erfasste wie ein Anfall von Schüttelfrost.
Lange, lange stand er so da und versuchte Herr über seine zitternden Hände zu werden. Und schließlich ließ er die Mauser sinken, drehte sich um und ging über den Strand davon. Seine Schritte waren schwer und in seiner Tasche brannte die Karte mit all ihren einzelnen Zeichnungen wie Feuer. Er würde sie vernichten. Sie ins Meer werfen. Zerreißen. Verbuddeln. Er musste erst noch über ein angemessenes Begräbnis nachdenken für dieses gefährliche Stück Papier. Eine Weile wanderte er ziellos durch die Nacht, um seine zitternden Hände zu beruhigen, zwischen kargen Büschen und schlafenden Leguanen hindurch.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er zu der kalten Feuerstelle zurückkehrte, neben der Marit schlief. Geschlafen hatte. Marit war verschwunden. Nur ein Abdruck im Sand zeugte davon, wo ihr Körper gelegen hatte. Drei schlafende große Vögel – ein Albatros, ein Pinguin und ein Flamingo – bildeten einen lebendigen Rahmen um den Abdruck.
Lied der Wasserleguane
Siehst du’s auf den Felsen sitzen?
Schwarz und rot, voll Zackenspitzen?
Siehst aus trägen Augenschlitzen
du den Schalk bisweilen blitzen?
Wir? Lebendig? Nein.
Das muss ein Irrtum sein.
Wir sind aus Stein.
Du sahst uns Feuer spei’n …?
Alles Trug und Schein. Wir blasen
nur das Salz aus unsren Nasen,
das wir in den Trockenphasen
aus des Ozeans Wasser lasen.
Ja, wir sind die letzten Drachen,
doch
Weitere Kostenlose Bücher