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Die geheime Reise der Mariposa

Die geheime Reise der Mariposa

Titel: Die geheime Reise der Mariposa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sie suchten, war zu klein, war vernichtend winzig im riesigen Blau des Pazifiks. Seine sanften Wellen waren noch immer zu hoch, sie verbargen das willenlos dahintreibende Spielzeug des Meeres gut.
    Gegen Mittag fiel ein leichter Regenschauer, und Marit und José ließen das Süßwasser mit geschlossenen Augen über ihre Gesichter laufen und versuchten, so viel wie möglich davon zu trinken. Es nahm die sengende Hitze der Sonne fort und kühlte auf wunderbare Weise. Als der Regen nachließ, öffnete Marit die Augen. Und da sah sie, wie die beiden Schiffe abdrehten und davonfuhren. Sie hatten ihre Suche aufgegeben.
    »Jetzt sind wir ganz allein«, sagte Marit bitter. »Ganz allein mit der Sonne und dem Ozean. Und einer Handvoll Tieren, die uns auch nicht helfen können.«
    »Nein«, sagte José. »Wir sind nicht allein. Wir sind zu zweit. Vergiss das nie.«
    Wie viele Bücher hatte Marit über Schiffbrüchige gelesen! Über die unbarmherzig herabbrennende Sonne. Über die Wasserknappheit. Den Hunger auf den Rettungsbooten. Den Kannibalismus, der letztlich ausbrach. Den Mut, den die Schiffbrüchigen bewiesen. Es war alles gelogen.
    Marit wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, eines der Tiere aufzuessen, die mit ihnen unterwegs waren. Die Tür, auf der sie lag, schaukelte auf eine seltsam unstete Weise, und wenn Marit irgendetwas in ihrem Magen spürte, dann Übelkeit. Sie konnten auch keinen Mut beweisen, denn es gab nichts, was sie hätten tun können. Das einzig Wahre, was in den Büchern gestanden hatte, war die sengende Sonne. Sengend. Erst jetzt begann sie das Wort zu begreifen.
    Es war die hellste Art, hell zu sein, die heißeste Art, heiß zu sein, die unausweichlichste Art, unausweichlich zu sein. José zog sein Hemd aus, um damit seinen Kopf zu schützen, wie damals auf der Mariposa. Und Marit stellte voller Erstaunen fest, dass sie noch immer eine karierte Mütze in der Tasche hatte. Wenn sie gegen Wind und Regen in Europa half, warum sollte sie nicht gegen die Sonne des Pazifiks helfen?
    Sie half nicht. Die Sonne durchbohrte den Stoff mit ihren Strahlen und dörrte die Körper auf dem Ozean aus, sie spiegelte sich tausendfach auf der Wasseroberfläche und stach in die Augen, stach ins Gehirn. Und dann kam die Nacht und mit der Nacht kam die Kälte.
    »José«, flüsterte Marit. »Diese Nacht … überleben wir nicht.«
    »Sei still«, sagte José. Sie hatten ihre Fahrzeuge, die Tür und die Bank, mit Streifen ihrer Kleidung zu einem einzigen Floß zusammengebunden, und nun drängten sie sich eng aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Kurt deckte sie mit seinem weißen Federkleid zu. Und die Nacht ging vorüber und sie lebten noch, und die Sonne kehrte wieder, brennend heiß, und alles begann von vorn.
    In dieser Mittagsstunde regnete es nicht. Das Meer war weiß wie ein Stück Papier, weiß wie Schnee, weiß wie das flüssige Gestein im Innern eines Vulkans … Und dann tauchte etwas aus dem Weiß auf. Eine riesige Flosse, auch sie an ihrer Unterseite reinweiß.
    »José«, flüsterte sie. »Da! Sieh nur!«
    »Ein Wal«, antwortete José heiser. »Ein Buckelwal.«
    Der Wal blieb eine Weile verschwunden und tauchte ein Stück weiter noch einmal auf, nur um mit einer Krümmung seines riesigen, seepockenbedeckten Rückens wieder zu verschwinden. Er klatschte mit seinen Flossen auf die Wasseroberfläche, es knallte wie Schüsse und Marit und José zuckten zusammen. Doch offenbar war dies die Art des Wals zu spielen. Er schwamm eine ganze Weile neben ihnen her, und wenn er an die Oberfläche kam, sahen sie die Wasserfontäne, die er aus seinem Blasloch stieß.
    José hob den Kopf ein wenig von der Bank, auf der er lag. »Wenn du diesen Wal … behalten willst«, sagte er schwach, »dann rechne nicht damit, dass ich zustimme.«
    Marit lächelte, doch das Lächeln tat weh, denn die Trockenheit hatte tiefe blutige Risse in ihre Mundwinkel gegraben. »Ich kann ihn nicht … behalten«, flüsterte sie mühsam, stockend. »Er ist … zu groß. Einen so großen Namen kann ich mir … niemals ausdenken.«
    Da verließ der Wal sie endgültig. Marit hielt ihr Gesicht ins Wasser, um ihm nachzublicken, doch statt des Wals fand sie eine Gruppe von Wasserschildkröten dort. Sie sah das feine Netz aus hellgelben Linien, an denen ihre dunklen Panzerplatten zusammenstießen, sah ihre grazilen Flossen und ihre aufmerksam glänzenden Edelsteinaugen …
    »Wie schön sie sind!«, wisperte Marit. »Wir werden nie jemandem

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