Die geheime Reise
Ort?
Wanja rannte zu Amons Wagen. Auch hier war alles dunkel, Wanja hämmerte an die Tür, aber niemand öffnete.
Wie im Fieber dachte Wanja nach. Ein besonderer Ort. Ein besonderer Ort. Wanja sagte es laut vor sich hin. Und dann schoss ihr plötzlich ins Gedächtnis, wo sie diese Worte schon einmal gehört hatte. Im Wald, auf ihrem Ausflug mit Taro, Mischa und Sandesh. Die Höhle war es, die Taro einen besonderen Ort genannt hatte. Und Amon war ihnen im Wald entgegengekommen.
Der Gong schlug zum zweiten Mal, laut und tief. Das Kribbeln stieg an Wanjas Armen empor.
Sie rannte los, vorbei an Amons Wagen, den kleinen Weg entlang, ins Innere des Waldes. Ihre Schritte knackten auf dem Unterholz, der Gong schlug zum dritten Mal, aber Wanja lief weiter, ignorierte das Stechen in ihrer Brust, die Schwärze vor ihren Augen und die tief im Nacken sitzende Angst.
Nach einer Weile blieb sie stehen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber wie sollte sie die Höhle erkennen? Schon damals war sie unter Blättern versteckt gewesen, aber jetzt … Wie weit war sie schon gelaufen? Musste sie vor? Zurück?
Vorsichtig ging sie weiter, ihren Kopf nach links gerichtet, auf die Seite, an der die Höhle gelegen hatte. Dadurch sah sie den Baumstamm nicht, der ihren Weg versperrte, sie stolperte, fiel der Länge nach hin, rappelte sich mit einem Ruck wieder auf und rieb sich fluchend das aufgeschlagene Knie, in das sich irgendwas Spitzes gebohrt hatte; ein Stein, ein abgesplittertes Stück Holz, vielleicht sogar eine Glasscherbe.
Der Gong schlug zum vierten Mal. Und Wanja lachte. Lachte vor Glück. Der umgestürzte Baumstamm zeigte ihr, wo sie war. Genau an dieser Stelle war Amon ihnen damals entgegengetreten. Und wenn nicht ein zweiter Baum im Weg lag, dann musste es hier sein.
Auf allen vieren kroch Wanja vorwärts, ganz auf der linken Seite des Weges, vergaß ihr schmerzendes Knie und wusste, als ihre Hand an etwas Hartes, Kaltes stieß, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.
Sie tastete nach der kreisrunden Öffnung. Da. Da war sie. Das Laub war zur Seite geräumt und Wanja kroch ins Innere der Höhle. Die Dunkelheit, die jetzt nach ihr griff, war noch schwärzer als die im Gang zum großen Saal. Es war, als hätte die Höhle ihr zahnloses Maul geöffnet und Wanja geschluckt.
Die Angst ließ sie kaum noch atmen. Was würde sie vorfinden? Würde sie überhaupt etwas vorfinden? Der schlauchartige Höhleneingang war so niedrig, dass Wanja sich ducken musste. Kalt, feucht und modrig war die Luft, und als Wanja auf etwas Weiches, laut Fiepsendes trat, schrie sie leise auf.
Dann erblickte sie das Licht. Vor ihr lag ein winziger Raum, erleuchtet vom schwachen Schein einer Kerze. Hinten an der steinernen Wand lag jemand … auf einem Mantel. Davor saß eine gebeugte Gestalt, die sich jetzt zu Wanja umdrehte. Kristallene Augen blitzten ihr entgegen. Der Gong schlug zum fünften Mal.
»Amon!« Wanja lief auf den Alten zu, kniete neben ihm nieder und zwang sich auf die dort liegende Gestalt zu schauen. Inzwischen kribbelte ihr ganzer Körper, als bahnten sich Heerscharen von Ameisen ihren Weg durch ihre Adern.
Vor ihr auf dem Boden lag Mischa. Er hatte die Augen geschlossen, seine Brust hob und senkte sich leicht und eigentlich sah er aus wie immer. Aber als Wanja ihre Hand nach ihm ausstrecken wollte, merkte sie plötzlich, dass etwas anders war, und es erschien ihr viel schlimmer, als alles, was sie sich vorgestellt hatte. Was hatte sie sich vorgestellt? Jedenfalls nicht, dass Mischa auf diese sonderbare, kaum merkliche Weise durchsichtig wirkte, fast so, als könne man durch ihn hindurchgreifen.
»Amon!« Wie eine Beschwörung wiederholte Wanja den Namen des alten Zauberers. »Was passiert mit ihm?«
Amon rutschte zur Seite, machte Wanja Platz. »Es wird Zeit«, sagte er leise. »Der Prozess hat schon begonnen, du musst dich beeilen.«
Aber Wanja war plötzlich wie gelähmt. »Was muss ich tun?«, flüsterte sie.
Amon stand auf. »Du musst ihn dazu bringen, dass er dich hört«, entgegnete er. »Und dann musst du ihn dazu bewegen, dir zu folgen.« Der Alte legte Wanja seine Hand auf die Schulter, aber Wanja spürte es kaum. Das Kribbeln breitete sich in ihrem Kopf aus.
»Ich lasse euch beide jetzt allein.« Amon wandte sich ab. »Dieser Ort besitzt eine besondere Kraft. Er hat den Prozess verzögert, sonst wäre es längst zu spät. Aber der Rest liegt bei dir, Wanja. Bei dir und Mischa. Ihr könnt es schaffen.«
Die Hand löste sich
Weitere Kostenlose Bücher