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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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rauf und schloss ihre Zimmertür hinter sich.
    »Was ist mit dir nur los, um Himmels willen?!«, schrie Jo ihr schrill hinterher.
Wanja legte sich mit Schuhen und Jacke auf ihr Bett. Sie war müde, so entsetzlich müde. Aber jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, öffnete sich dahinter der Vorhang. Und die Bilder erschienen.
Der schwarze Vogel, kopfunter am Trapez.
Taros Sturz.
Und Mischa, immer wieder Mischa.
Wanja griff nach der Wolldecke am Fußende ihres Bettes. Sie fror, trotz der Jacke, trotz des geheizten Zimmers. Sie fror von innen her und nicht einmal Schröder war da, um sein warmes Fell an ihren Körper zu schmiegen.
Klein wie ein Baby rollte Wanja sich auf ihrem Bett zusammen und horchte in sich hinein. Wo in ihr war jetzt dieser Reisekörper, von dem die alte Frau und der Hüter der Bilder gesprochen hatten? Wanja fühlte ihn nicht. Sie fühlte nur das Kneifen ihres Magens. Es war eine Ewigkeit her, seit sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte, und als Jo sie Stunden später in die Küche rief, zwang Wanja die Pellkartoffeln mit Quark in sich hinein. Flora war bereits gegangen.
»Wo warst du, Wanja?« Wieder und wieder stellte Jo diese Frage, bis Wanja schließlich nachgab.
»Ich wollte zurück.«
»Zurück?« Jo runzelte die Stirn.
»Ich hatte Streit mit Britta, ich hab mich schlecht gefühlt, ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten.«
»Du bist aber nicht zurückgekommen.«
»Nein. Als ich am Bahnhof war, bin ich wieder umgekehrt.«
Jo knallte die Gabel auf den Tisch. »Verdammt noch mal, Wanja! Meine Nerven sind langsam genug strapaziert! Am nächsten Morgen wärt ihr doch sowieso gefahren. Glaubst du etwa, ich nehme dir diesen Schwachsinn ab?«
Wanja zuckte mit den Achseln. Dann nahm Jo ihr halt den Schwachsinn nicht ab. Sie wollte eine Antwort, jetzt hatte sie eine. Wanja war nichts geschehen, sie war unversehrt zurückgekehrt und auf Dauer einsperren konnte Jo sie schließlich nicht, auch wenn Wanja dieses Wochenende zum ersten Mal in ihrem Leben Hausarrest hatte. Plötzlich, inmitten all der Verzweiflung, fühlte Wanja eine Spur von Triumph und ein kaltes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Du hast deine Geheimnisse. Und ich habe meine.
    Jo verließ die Küche.
    Am Nachmittag rief Frau Sander an. Wanja hörte von ihrem Zimmer aus, wie Jo mit ihr sprach.
»Auch das noch«, sagte Jo, als sie anschließend in Wanjas Türrahmen stand. »Frau Sander hat darum gebeten, deine Besuche bei ihr für eine Weile einzustellen. Sie wollte nicht so richtig mit der Sprache heraus, aber offensichtlich hat es ja wohl was mit einem Streit zwischen dir und Britta zu tun.« Jo seufzte. »Ist ja auch egal, warum. Aber ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll. Ich weiß nicht, ob ich dir noch vertrauen kann. Du siehst schrecklich aus, Wanja. Mit dir ist doch was.«
Wanja versuchte alles in sich wegzudrängen. Nach unten, runter mit den aufsteigenden Tränen. Wenn Jo jetzt weiterbohrte, war es vorbei.
»Ich bin nur müde, Jo«, entgegnete sie, so ruhig sie konnte. »Und wenn ich drei Nachmittage in der Woche allein sein kann, dann kann ich es auch an fünfen.«
Jo starrte an ihr vorbei aus dem Fenster. Grau war es draußen. Grau, kalt und trostlos. »Ich könnte Flora bitten.«
»Das brauchst du nicht.« Wanja sprang auf und zog ihre Mutter am Arm. »Du kannst mir vertrauen, Jo. Ich mach so was nicht wieder. Ich verspreche es dir.«
Jo schloss langsam die Tür. Gleich darauf öffnete sie sie wieder. »Sag mal, Wanja, hat das alles irgendwas mit diesem Jungen zu tun? Diesem, wie hieß er noch, Mischa?«
Wanja erschrak. »Nein, Jo.« Und schluckte. »Wirklich nicht. Was soll das denn mit dem zu tun haben? Wir sind Freunde, Mischa und ich, das ist alles. Glaubst du etwa, ich hau aus dem Schullandheim ab, um mich mit ihm zu treffen? Den hätte ich doch eh am nächsten Tag gesehen, wenn ich das gewollt hätte.«
Jo schüttelte den Kopf. Und ging nach unten. Wanja ging zurück ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Der Rest des Tages kroch dahin, langsam und unerbittlich.
    Am Montag hatten sie die ersten beiden Stunden Frau Gordon. Britta hatte sich neben Sue gesetzt. Tina war jetzt unterwegs in ihre neue Heimat.
    Während Frau Gordon mit der Klasse eine neue Kurzgeschichte durchnahm, wanderte ihr Blick immer wieder zu Wanja. Aber sie ließ sie in Ruhe und Wanja war ihrer Lehrerin dankbar dafür.
    Außer der Angst um Mischa und Taro passte jetzt nichts mehr in ihren Kopf. Warum hatte sie den Hüter der Bilder

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