Die geheime Reise
nicht nach Taro gefragt? Oder nach dem Vogel? Wenn er wusste, wie es um Mischa stand, dann wusste er doch sicher auch über Taro Bescheid. Waren die Bilder in seinem Turm dieselben Bilder, die auch in der Ausstellung hingen? Sah er dasselbe darin wie sie?
Doch je weiter der Uhrzeiger nach vorne kroch, desto stärker rückte Mischa in den Vordergrund. Für Taro konnte Wanja jetzt nur beten. Für Mischa konnte sie etwas tun. Ein paar Mal hatte sie am Wochenende versucht bei ihm anzurufen, aber es hatte niemand abgehoben. Und wenn er jetzt nicht in der Schule war, war alles zu spät. Dann brauchte sich Wanja gar nicht erst auf den Weg zum Museum zu machen.
Aber er war da. Als Wanja nach dem Klingeln auf den Pausenhof rannte, stand er an seinem Platz bei den Fahrradständern, in seiner zerschlissenen Cordjacke, die Hände in den Hosentaschen.
Wanja ging auf ihn zu. Sie konnte ihn nicht Mischa nennen. Nicht einmal in Gedanken. Mischa war im Bild.
Der Junge musterte Wanja. Sein leerer, ausdrucksloser Blick war unverändert und es kostete Wanja Überwindung, ihn anzusprechen. Zögernd fasste sie ihn am Ärmel. »Nach der Schule triffst du mich hier, hast du verstanden?« Meine Güte, seine Augen, wie kalt sie waren. Und wie geschwollen sein Gesicht noch immer war. Die Stelle unter seinen Augen schimmerte jetzt violett. Wanja griff ihn an beiden Schultern. Riss an seiner Jacke. »Ob du mich verstanden hast, will ich wissen!«
Der Junge nickte. »Ja.«
Und als die Schule aus war, wartete er auf sie. Er fuhr hinter ihr her zum Museum. Über eine Stunde hatten sie noch Zeit. Der Junge folgte Wanja schweigend die Treppen hoch zum Eingang der Kunsthalle, in deren Mitte noch immer der Engel stand, die Trompete zur Decke gerichtet, ein steinernes Lächeln auf den kunstvoll gemeißelten Lippen.
Wanja griff nach der Hand des Jungen. Sie fühlte sich kalt an, aber Wanja hielt sie ganz fest.
Um kurz vor drei betrat sie mit ihm die Abteilung der alten Meister. Die rote Tür war da, aber diesmal waren sie die Einzigen, die den dunklen Gang betraten.
Dahinter, im Saal, erwartete sie die uralte Frau. Sie stand auf der Bühne und lächelte ihnen zu. Wanja las weder Angst noch Traurigkeit in ihrem Gesicht, und das gab ihr Mut.
»Zwölf Mal wird der Gong ertönen«, sagte die Frau. »Beim zwölften Schlag müsst ihr zurück sein.«
Wanja hielt den Jungen noch immer an der Hand. Der blickte sich im Raum um, aber in seinem Gesicht regte sich nichts.
»Wo werde ich Mischa finden?«, fragte Wanja leise.
Die alte Frau holte tief Luft. »Er ist bei Amon«, sagte sie. »An einem besonderen Ort.«
Dann gab sie Wanja ein Zeichen.
Wanja führte den Jungen in ihre Arkade. Dort ließ sie ihn stehen – und berührte Taros Bild.
Die Manege war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Wanja konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Sogar sie selbst kam sich mit einem Male unheimlich vor. Vor allem wenn sie daran dachte, dass jetzt auch ihr eigener Körper draußen vor dem Bild stand. Wanja kniff sich in den Arm, froh über den Schmerz, den sie empfand. Und als sie sich die Hände auf die Wangen legte, fühlte ihr Gesicht sich warm und lebendig an. Wanja atmete tief ein. Hier war sie, hier im Bild. Bei Mischa. Wanja drehte ihren Kopf in alle Richtungen. Nur nach oben wagte sie nicht zu schauen.
»Hallo?«, rief sie, erschrocken über den schrillen Klang ihrer eigenen Stimme. »Ist jemand da?«
Niemand antwortete.
Wanja tastete sich vorwärts. Neben dem Vorhang stolperte sie über irgendetwas, das auf dem Boden lag, aber sie rappelte sich auf und ging weiter nach draußen. Vor dem Zelt schlug ihr ein warmer Wind entgegen. Auch hier war alles still. Still, dunkel und verlassen.
Und plötzlich fühlte sie den Vogel. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie spürte, dass er da war, und obwohl sich ihre Kehle zuzog, hätte sie für einen Moment am liebsten nach Taro gerufen oder ihn gesucht. Aber dann dachte sie an Mischa und an die wenige Zeit, die ihr blieb, und sie riss sich zusammen. Mischa war es, der jetzt ihre ganze Kraft brauchte.
Auch von den Artisten war niemand zu sehen, nur von der Cafeteria her ertönten leise Stimmen, und als der erste Gong ertönte, fühlte Wanja schon das Kribbeln. So schnell? Schwer und sperrig ging der Atem in ihrer Brust. Wohin sollte sie gehen? Im ersten Moment zog es sie zur Cafeteria. Doch dann fiel ihr ein, was die alte Frau gesagt hatte. Er ist bei Amon. Woher wusste sie seinen Namen? Und was meinte sie mit dem besonderen
Weitere Kostenlose Bücher