Die geheime Reise
von Wanjas Schulter und sie hörte, wie Amons Schritte sich entfernten. Wanja wollte ihn zurückrufen, aber sie bekam keinen Laut heraus. Sie beugte sich über Mischa, der ihr plötzlich unendlich weit weg erschien.
Der Gong ertönte zum sechsten Mal.
Wanja rüttelte an Mischas Schultern, ihre Angst, dass ihre Hände ins Leere greifen würden, bestätigte sich nicht, obwohl sich die Schultern seltsam anfühlten, beinahe schwerelos und ohne jeden Widerstand.
»Mischa!«
»Mischa!«
Wieder und wieder rief sie seinen Namen, aber Mischa rührte sich nicht. Wanja schrie jetzt, immer lauter, immer verzweifelter. Aber die einzige Antwort waren die Gongschläge.
Sieben.
Acht.
Wanja verstummte. Sie sah auf Mischa herab. Tränen liefen lautlos ihre Wangen herab. Es war unendlich still. Und aus dieser Stille heraus erhob sich ein Gefühl. Wieder war es diese innige Vertrautheit, aber diesmal ging sie tiefer als je zuvor. Wanja kroch zu Mischa auf den Mantel. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust, schlang ihre Arme um seinen leblosen Körper, drückte ihn, bis sie etwas spürte, und hielt ihn fest. Sie hatte aufgehört zu denken. Sie fürchtete sich nicht mehr. Nicht einmal das Kribbeln nahm Wanja mehr wahr. Nur dieses Gefühl.
Ihr Atem wurde zu Mischas Atem, der schwach war und dann, kaum merklich, stärker wurde.
»Was … ist … los?«
Wanja hob den Kopf. Ganz dicht war ihr Gesicht über Mischas. Seine blauen Augen sahen sie an, groß und verwirrt. »Wo bin ich?«
Der Gong schlug zum neunten Mal. Wanja sprang auf. Griff nach Mischas Hand. Zog ihn hoch und war jetzt beinahe froh darüber, wie leicht sein Körper war.
»Mischa! Wir müssen hier raus. Wir müssen zurück, es bleibt nicht mehr viel Zeit. Du musst aufstehen! Mischa! STEH AUF!«
Sie zog und zerrte an ihm und Mischa, wirr und schwach, versuchte auf die Beine zu kommen. Als er stand, legte Wanja seinen Arm um ihre Schultern. Sie wusste nicht, wie sie zum Ausgang gelangten, aber sie schafften es. Der Gong schlug zum zehnten Mal.
Wanja schrie nach Amon, schrie und schrie, aber Amon antwortete nicht. Immer wieder sackten an ihrer Seite Mischas Beine weg und Wanja hatte kaum noch Kraft. Jetzt kam die Verzweiflung zurück. So kurz vor dem Ziel durfte es nicht zu spät sein, es durfte einfach nicht! Warum, zum Teufel, hatte Amon sie allein gelassen?
»Geh allein«, hauchte Mischa. »Geh ohne mich, ich schaff es nicht.«
»Auf keinen Fall«, schrie Wanja. »Hörst du, Mischa? Auf keinen Fall!«
Und dann hörte sie ein Rascheln. Sie hielt den Atem an. »Amon?«
Aber vor ihnen stand nicht Amon.
Vor ihnen stand Sandesh.
Sein weißes Fell leuchtete im Dunkeln. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und stand vor dem Eingang der Höhle. Er schnaubte leise und senkte seinen Kopf. Mit letzter Kraft schob Wanja Mischa auf den Rücken des Pferdes. Dann stieg sie selber auf, Mischa hielt sich an ihr fest, Wanja griff mit einer Hand nach der Mähne des Pferdes und umklammerte mit der anderen Mischas Hände vor ihrem Bauch. Sandesh setzte sich in Bewegung. Weich und federnd, galoppierte er über den Waldweg, machte einen Satz über den umgestürzten Baumstamm und preschte weiter durch die Nacht, zielsicher und schnell wie ein Pfeil.
Elf.
Sie erreichten das Ende des Waldes. Hörten ein wütendes Krächzen. Erreichten die Manege. Noch immer war keiner der Artisten zu sehen. Sandesh lief mit ihnen durch den Vorhang. Vor dem Rahmen blieb er stehen.
Wanja sprang ab. Reichte Mischa die Hand. Das Kribbeln war jetzt wieder so stark, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Eine seltsame Leichtigkeit ergriff von ihr Besitz und für eine Sekunde erfüllte sie der Wunsch, sich aufzulösen und eins zu werden mit der Luft.
Doch dann, mit dem Schlag des zwölften Gongs, zog sie Mischa zum Rahmen. Sie griffen hinein, beide zur gleichen Zeit, während der zwölfte Gongschlag noch in ihren Ohren hallte.
Als die beiden aus der Arkade in den Saal traten, schlug die Frau auf der Bühne ihre beiden Hände vor den Mund.
»Ihr habt es geschafft«, flüsterte sie. »Ihr habt es wirklich geschafft.«
Wanja sah zu dem Jungen, der wieder Mischa war. In seine Augen, ja in seinen ganzen Körper war das Leben zurückgekehrt, während auf seinem Gesicht noch immer die Verwirrung lag.
G ERETTET UND DOCH …
D er Uhrzeiger im Museum rückte auf fünf, aber Wanja und Mischa hockten noch immer neben dem Engel in der Eingangshalle, wo Wanja erzählt hatte, ohne Unterlass.
»Und du kannst dich wirklich an
Weitere Kostenlose Bücher