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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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nichts erinnern?«, fragte sie bereits zum zweiten Mal. »Auch nicht an das, was außerhalb des Bildes war?«
    Mischa schüttelte den Kopf. »Ziemlich unheimlich, das Gefühl, zweimal zu existieren und nichts davon zu wissen«, murmelte er. »Und ich bin wirklich weggegangen aus dem Saal? Wie sah ich denn aus?«
    Wanja schloss die Augen. »Fremd und leer«, sagte sie leise.
»Und im Bild?«
Wanja schwieg. Neben der Kasse stand die turmhaarige Aufseherin. Ärgerlich blickte sie in ihre Richtung. »Dass ihr mir den Engel bloß nicht anfasst«, schrillte ihre Stimme durch die leere Halle.
Wanja hörte gar nicht hin. »Im Bild warst du der Mischa, den ich kannte«, antwortete sie. »Auch wenn dein Körper irgendwie aussah wie … wie … ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, wie im Traum vielleicht. Was ist denn das Letzte, an das du dich erinnern kannst?«
Mischa hob den Cent auf, der vor seinen Füßen lag. »Das Letzte, was ich weiß, war der Moment, wie ich Taro und den anderen hinterhergelaufen bin. Aber sie waren schneller und dann«, er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, »bin ich zusammengebrochen. Dieses Kribbeln, von dem du vorhin gesprochen hast, das hab ich auch gespürt. Dann gingen in mir die Lampen aus. Wie ich in diese Höhle gekommen bin, weiß ich nicht. Das habe ich wohl Amon zu verdanken. Aber dann …« Mischa stockte. »Dann wurde es irgendwann neben mir ganz warm. Und ich konnte deinen Atem fühlen.«
Wanja zog mit der Fußspitze einen langen Kratzer auf dem Fußboden nach. »Ich deinen auch.«
»Ich wollte einfach nicht zurück«, sagte er trotzig. »Nicht zu diesem Arschloch. Und nicht mit der Ungewissheit, was mit Taro war. Es ging alles so schnell, so schrecklich schnell. In dem einen Moment hing Taro noch am Trapez. Und im nächsten war plötzlich der Vogel da. Er kam von hinten, wie aus dem Nichts, und schon als er Taro das erste Mal ins Netz gestürzt hat, dachte ich, das überlebt er nicht. Alle kamen sie angelaufen. Aber keiner«, Mischas Hände ballten sich zu Fäusten, »keiner hat sich gerührt. Ich selbst war auch wie gelähmt. Obwohl ich gesehen hab, was mit dem Netz los war. Verdammt Wanja. Ich habe alles mit angesehen, alles!«
Wanja fühlte einen Stich in ihrer Brust. Mischa war gerettet. Aber was war mit Taro?
»Der Vogel saß vorhin auf Taros Wohnwagen«, presste sie hervor. »Glaubst du, Taro …« Wanja hielt inne. Weiter wollte sie einfach nicht denken.
Mischa hob langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber ich will, dass er lebt. Ich will es so sehr, wie ich will, dass dieses Arschloch krepiert.«
Wanja wusste, dass er mit dem Arschloch nicht den Vogel meinte, sondern den Menschen, der ihn geprügelt hatte. Seinen Vater.
Schweigend schoben sie ihre Fahrräder zurück. An der Ecke, an der sie sich wie immer trennten, lehnte Mischa sein Rad an eine Hauswand. Er trat dicht an Wanja heran. Seine Arme hingen ihm an den Seiten herunter. Sie zuckten, als wollte er sie heben. Aber er hob nur den Kopf und sah Wanja an.
»Ich kenne keinen anderen Menschen, der das für mich getan hätte«, sagte er.
F ROHES NEUES J AHR
    M it dem letzten Schultag kam der Schnee. Auf den Straßen blieb nur nass-grauer Matsch mit schwarzen Sprenkeln, der von schlecht gelaunten Haus- oder Ladenbesitzern zur Seite geschippt wurde. Doch der Boden des Wäldchens war eine weiche weiße Decke und ihr heller Glanz hatte Wanja für einen Augenblick ganz in seinen Bann gezogen.
    Sie war erleichtert gewesen, als sie die Schule verlassen hatte. Britta und sie sprachen nicht mehr miteinander, grüßten sich nicht einmal. Nur Sue hatte ihr zugenickt und Mischa begleitete sie noch ein Stück mit dem Versprechen, sie nach Weihnachten anzurufen und Silvester zu ihnen zu kommen.
    Morgen war Heiligabend. Der Tannenbaum stand schon im Wohnzimmer und am späten Nachmittag würden sie die Großmutter vom Bahnhof abholen. Wanja baute mit Brian einen Schneemann im Garten, als Jo nach Hause kam. Jo trug Grün, zum ersten Mal seit Wochen, und lachte, als sie die Krone aus Schnee sah, die Yolanda, das Steinschwein, auf dem Kopf trug.
    Aber auf dem Weg zum Bahnhof seufzte sie alle paar Meter. Es war das erste Mal, dass Wanjas Großmutter Weihnachten bei ihnen verbrachte, und Wanja wusste, dass es für Jo nicht leicht gewesen war, sie einzuladen. Die anderen Jahre war die Großmutter immer zu Hause geblieben, aber dorthin wollte Jo um keinen Preis. Seit ein paar Wochen hatte Uri eine Pflegerin, weil Wanjas

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