Die geheime Reise
griff in ihre Jackentasche, holte ihre Zigaretten raus und zündete sich eine an.
Wanja schwieg. Sie fühlte sich mittlerweile wie betäubt. Der Penner neben ihnen drehte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter.
»Es war im März.« Natalies Stimme klang tonlos. »Ich habe ihn gefunden. Zu seiner Beerdigung kam keiner von seiner Familie. Erst im Sommer sind wir zu meinen Großeltern nach Kuba geflogen. Und auf dem Rückflug«, Natalie blies den Zigarettenrauch in die kalte Luft, »hat sich meine Mutter dann einen neuen Mann angelacht.« Sie lachte bitter. »Kaum ist der eine unter der Erde, taucht in der Luft ein anderer auf. So schnell kann’s gehen, was?«
»Der Indianer in deinem Bild ist auch ein anderer«, sagte Wanja. Natalie sog den Rauch ein, scharf und tief. Alles um sie war still. Keine Durchsagen, keine Züge, keine Menschen. Nur der friedlich schlafende Penner neben ihnen.
»Ja«, sagte Natalie. »Der Indianer ist auch ein anderer. Aber er gibt mir etwas, das mein Vater mir nie geben konnte.«
»Und was?«
Natalie schnippte ihre Zigarette weg. Wie ein Funken flog sie durch die Luft. »Ein Gefühl dafür, dass das Leben schön ist. So wie es ist. Auch wenn die Dinge schwierig sind. Beim letzten Mal«, Natalie senkte ihre Stimme, »beim letzten Mal ist in meinem Bild jemand gestorben. Ein alter Indianer. Seine Zeit war da und alle waren bei ihm. Ich auch. Wir haben gesungen … bis es so weit war.«
Natalie zündete sich eine neue Zigarette an. Danach sagten beide nichts mehr. Sie saßen nur da, Seite an Seite, wärmten sich gegenseitig und ließen die Zeit verstreichen.
Minute um Minute.
Stunde um Stunde.
»Danke«, sagte Wanja, als sie sich um kurz vor sechs von Natalie verabschiedete. In wenigen Minuten kam ihr Zug. Draußen war es noch immer dunkel, aber auf dem Bahnhof herrschte wieder Alltag. Menschen mit grauen Mänteln und müden Gesichtern eilten an ihnen vorbei. Hinter dem noch immer schlafenden Penner wurden Rollläden hochgezogen. Die Ladentür öffnete sich. »Herrgott noch mal, kann der sich nicht einen anderen Schlafplatz suchen?«, schnarrte eine Männerstimme.
»Viel Glück!« Natalie umarmte Wanja. »Ich werde an dich denken, in drei Tagen.«
Auf der Rückfahrt begegnete Wanja keinem Menschen. Nicht einmal ein Schaffner kam. Dafür wurde sie im Schullandheim erwartet. Herr Schönhaupt und Frau Gordon saßen vorne in der Empfangshalle. Aber Wanja war nicht einmal aufgeregt. Wie auch. Gegen das, was sie erlebt hatte, was dies hier ein Kaffeekränzchen.
Herr Schönhaupt erhob sich. Er trug einen hellblauen Jogginganzug und sein fettiges Zöpfchen lag wie eine dünne Schnecke auf seiner Schulter. Oh Mann, dachte Wanja. Wenn du wüsstest, wie lächerlich du aussiehst.
»Fräulein Walters! Ich werde dir jetzt einmal erzählen, was ich von einem solchen Benehmen …«
Frau Gordon schnitt Herrn Schönhaupt das Wort ab. »Wo bist du gewesen, Wanja?«
Wanja presste die Lippen aufeinander. Sie würde nichts sagen, egal, wie lange die beiden sie löchern würden. Aber Frau Gordon fragte nicht weiter. Sie warf Herrn Schönhaupt einen drohenden Blick zu. Und dann nahm sie Wanja in den Arm. Warm und straff fühlte sich ihr Körper an. Wanja hätte gerne geweint. Aber sie konnte nicht. Sie war leer und müde, so fürchterlich müde. Sie hing in Frau Gordons Armen wie jemand, der einer Ohnmacht nahe ist.
»Deine Mutter wartet zu Hause auf einen Anruf, Wanja. Tinas Vater hat sie benachrichtigt. Du kannst dir vorstellen, wie ihr zu Mute ist.«
Wanja nickte. Und dann folgte sie Frau Gordon zum Telefon.
Z WÖLF G ONGSCHLÄGE
»WAS HAST DU DIR DABEI GEDACHT?! «
Als Wanja am frühen Nachmittag nach Hause kam, schrie Jo ihr die Frage zum zweiten Mal ins Gesicht. Nicht mal vom Bus abgeholt hatte sie Wanja. Wieder war es Flora, die mit den anderen Eltern vor der Schule stand, und als die beiden an Tinas Vater vorbeigingen, drehte Wanja den Kopf zur Seite. Kein Wort wollte sie hören. Und kein Wort hatte sie gesprochen, auf der ganzen Rückfahrt nicht. Britta hatte allen erzählt, was los war, das erkannte Wanja an den Blicken ihrer Mitschüler. Aber niemand sprach sie an. Zu düster war ihr Gesicht, zu abweisend ihre Haltung. Im Bus saß sie allein, ganz vorne, auf der anderen Seite von Frau Gordon und Herrn Schönhaupt. Auch auf Jos Frage, die mehr wie ein Wutausbruch klang, gab Wanja keine Antwort, sondern schob sich an ihrer fassungslosen Mutter und an Flora vorbei, stieg die Treppe
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