Die geheime Reise
Pferderennen und abends gehen wir essen. Meine blöde Schwester wollte lieber Ponyreiten, aber Paps hat gesagt, wenn ihr seine Pläne nicht passten, könne sie gerne zu Hause bleiben und ihren Saustall aufräumen.«
»Dafür könntet ihr ja mich mitnehmen«, schlug Tina vor. Sie liebte Pferde über alles, ihr Zimmer war von oben bis unten mit Reiterpostern tapeziert und Wanja hätte nie für möglich gehalten, dass es so viele Pferdebücher gab, bis Tinas Bücherschrank sie vom Gegenteil überzeugt hatte.
Tina wickelte ihr Pausenbrot aus, klappte es auf und prüfte kritisch den Belag. »Außerdem kann mein Vater morgen nicht, weil er fahren muss.«
Tinas Vater war Schaffner bei der Bundesbahn und Wanja erinnerte sich, wie er sie vorletztes Jahr auf der Zugfahrt zu ihrer Oma und zu Uri kontrolliert hatte. Er war ein dicker, gemütlicher Mann, dessen Gesicht so rund war wie seine randlose Brille, hinter deren dicken Gläsern zwei freundliche Augen hervorschauten.
Da Tina ihrem Vater zu ihrem größten Bedauern ziemlich ähnlich sah, hatte Wanja ihn bereits erkannt, bevor sie seinen Nachnamen auf dem angesteckten Namensschild las. Als sie ihm mitteilte, dass sie mit seiner ältesten Tochter in eine Klasse ging, war sein Gesicht vor Freude ganz rot geworden. Er hatte Wanja kräftig die Hand geschüttelt, ihr eine Fanta aus dem Speisewagen an den Platz gebracht und war alle halbe Stunde bei ihr vorbeigekommen, um sich nach ihr zu erkundigen.
Sues Pläne für Christi Himmelfahrt waren den anderen offensichtlich schon bekannt, und gerade als sie Wanja zum zweiten Mal fragte, was Jo und sie denn nun eigentlich vorhatten, klingelte es zur nächsten Stunde.
Jo musste Donnerstag arbeiten, das hatte sie Wanja bereits angekündigt, und zum ersten Mal seit langem war Wanja froh gewesen, dass ihre Mutter am Feiertag arbeiten musste.
Doch am Vatertagsmorgen änderte Jo ihre Pläne. »Du, ich gehe nur heute Morgen in die Agentur«, eröffnete sie Wanja am Frühstückstisch. »Und nachmittags fragen wir Flora, ob sie mit uns ins Kino geht!«
»Geht leider nicht.« Wanjas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen und Jo runzelte verständnislos die Stirn. »Ich will heute Nachmittag in die Kunsthalle«, fügte Wanja hinzu.
»In die Kunsthalle?« Jetzt war Jo richtig erstaunt.
»Was willst du denn im Museum?«
»Wir, also …« Wanja angelte nach ihrer Haarsträhne.
»Wir machen in der Schule so ein Projekt mit alten Meistern.«
»Aha. Na, ihr macht ja wirklich eine Menge Projekte in letzter Zeit. Aber … warte mal.« Jo blätterte hastig in der Zeitung, die noch auf dem Tisch lag.
»Gibt es in der Kunsthalle nicht auch noch diese Ausstellung? Ja … hier … Weiblichkeit im Surrealismus . Weißt du, was?« Jo strahlte Wanja an.
»Da komm ich mit! Und Flora bestimmt auch. Ich ruf sie gleich von der Arbeit aus an. Wir treffen uns um halb vier am Eingang, ja?« Wanja versuchte verzweifelt ihre Anspannung zu verbergen.
»Ich muss aber früher hin«, sagte sie so beiläufig wie möglich.
»Weil nachmittags … bin ich noch mit Britta verabredet. Zum Eisessen.«
»Okay, Mausel.« Jo griff nach ihrem Mantel und zupfte Wanja am Ohrläppchen.
»Halb drei dann. Das schaff ich bestimmt auch und so lange wird Britta ja wohl warten können. Wieso kommt sie eigentlich nicht mit, wenn es ein Schulprojekt ist?«
Zum Glück verschwand Jo, ohne Wanjas Antwort abzuwarten, und Wanja hoffte inständig, dass ihre Mutter es doch nicht schaffen würde, ihre Arbeit rechtzeitig zu beenden.
Aber Jo kam pünktlich wie ein Maurer. Wer dagegen um Viertel vor drei noch immer nicht am Eingang des Museums stand, war Flora. Gerade als Wanja bei Jo durchgesetzt hatte, schon alleine vorzugehen, kam Flora in ihrem roten Ledermantel die Treppe hochgelaufen.
»Ich war noch mit Julien unterwegs«, entschuldigte sie sich und erwiderte das Lächeln eines Mannes, der gerade an ihr vorbei zum Eingang ging. Jo verdrehte die Augen.
»Du kannst es nicht lassen, was?« Wanja sah zum hundertsten Mal auf die Uhr und stieß
Jo den Ellenbogen in die Seite. Wenn es jetzt nicht auf der Stelle vorwärts ging, würde sie die beiden auf der Treppe stehen lassen.
»Ist ja gut, Mumpitzel.« Jo hakte sich bei Wanja ein.
»Wir gehen ja schon.« Die Kunsthalle, die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut worden war, hatte vor ein paar Jahren einen modernen Anbau bekommen. Er nannte sich Galerie der Gegenwart und erinnerte Wanja von
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