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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Philosoph in diesem Augenblick, in dem ihn der Maler für alle Zeiten festgehalten hatte, wohl zu ergründen versuchte.
    Doch jetzt erfüllte sie nur eine einzige Frage: die nach der roten Tür. Auf ihrer Armbanduhr war es mittlerweile kurz nach drei, während die große Uhr an der Wand des Saales eine Minute vor drei anzeigte. Hoffentlich geht die hier richtig, dachte Wanja. Als sie sich umsah, war kein anderer Jugendlicher mehr zu sehen. Oder doch … da – ein Mädchen, sie huschte quer durch den nächsten Raum und verschwand am anderen Ende in einer Nische. Es war das Mädchen, das Wanja vorgestern auf der Treppe angerempelt hatte, sie erkannte sie an ihrer dunklen Haut und den Afrozöpfen.
    Mit schnellen Schritten lief Wanja ihr nach. Es war der letzte Raum der Abteilung und die Nische war ein toter Winkel, in dem keine Bilder hingen. Auch das Mädchen war nicht mehr hier. Das Einzige, was sich von der weiß gestrichenen Wand absetzte, war eine Tür. Schmal und hoch. Und leuchtend rot. 
    Wanja sah sich um, das Herz schlug ihr jetzt bis zum Hals.

    Niemand war hinter ihr und auf einmal erschien es Wanja merkwürdig still. Als sie dicht vor der Tür stand, entdeckte sie daneben ein kleines Schild. Es war aus Messing, kaum breiter als Wanjas Daumen. In feinen schwarzen Lettern war ein Schriftzug hineingraviert.

    Vaterbilder.
    Wanjas Hand zitterte, als sie den runden, schwarz glänzenden Türknauf umschloss. Er ließ sich nach rechts drehen, aber die Tür öffnete sich nicht. Wanja sah noch einmal auf das Messingschild, suchte nach einer Klingel, fand aber nur eine schmiedeeiserne Stange. Ihr oberes Ende war an einem an der Wand angebrachten Hebel befestigt, das untere Ende mündete auf Wanjas Schulterhöhe in einen dicken schwarzen Pinselkopf. Die nachempfundenen Borsten schimmerten dunkel, und als Wanja sie berührte, fühlte sich die eiserne Oberfläche so warm an, als hätte sich erst vor einem Moment eine heiße Hand um sie gelegt.
    Wanja atmete tief durch. Dann zog sie am Kopf des Pinsels. Langsam gab die Stange nach, drei, fünf, sieben Herzschläge lang, bis der Hebel an einen Punkt gelangte, an dem es nicht weiterging. An diesem Punkt ertönte ein leises, glockenartiges Klingeln. Es schien aus weiter Ferne zu kommen und vibrierte tief in Wanjas Innerem. Die rote Tür summte; ein tiefer, schwerer Ton. Es klackte. Die Tür sprang auf und gab einen schmalen Spalt frei, hinter dem es dunkel war. Stockdunkel.
    Wanja drehte sich noch einmal um. Sie war allein in diesem toten Winkel. Sie dachte an das Mädchen, das eben darin verschwunden war. Verschwunden wohin? Wanja gab sich einen Ruck, drückte die Tür weiter auf und schob sich in die dahinter liegende Dunkelheit, langsam, Stück für Stück, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel und Wanja von der Schwärze geschluckt wurde. Mit Beinen, die sich wie Pudding anfühlten, drehte sie sich wieder um, tastete nach dem Knauf der Türeninnenseite, fand ihn, drehte ihn, aber die Tür ließ sich nicht mehr öffnen.
    »Hallo?« Wanjas Stimme, fremd und seltsam verzerrt, hallte ins Nichts.
    »Ist jemand da?« Keine Antwort, nur ein leises Echo, das ihre Stimme zurückwarf.
    Hallo? … Ist jemand da?
    Jetzt konnte Wanja nur noch vorwärts gehen. Ein modriger Geruch umfing sie und die feuchte, kalte Luft schien nach ihr zu greifen, schlüpfte unter ihre Hosenbeine, schob sich unter ihre Jacke, kroch ihr in den Nacken. Klein fühlte Wanja sich plötzlich, kinderklein – wie früher im Kartoffelkeller ihrer Großmutter, als sie und Jo noch dort gelebt hatten. Damals waren es Ratten gewesen, vor denen Wanja sich gefürchtet hatte, und noch früher waren es Gespenster, an die sie längst nicht mehr glaubte. Aber war das hier zu glauben?
    Als Wanja langsam ihren Arm ausstreckte, fühlte sie, dass sie sich in einer Art steinernem Gang befand, der vielleicht anderthalb Meter breit war. Wenn sie beide Arme ausbreitete, konnte sie die Seitenwände berühren. Nur über ihr war Leere – und vor ihr.
    Schritt für Schritt tastete sich Wanja weiter, mit immer noch zittrigen Beinen, die Hände vor ihren Körper gestreckt, um mögliche Hindernisse rechtzeitig auszumachen. Gut zwanzig Schritte ging sie so, ohne auch nur das Geringste zu sehen, bis ihre Hände an etwas Kaltes, Hartes stießen. Eine Mauer.
    Wanja streckte ihre Hände nach der rechten Seite aus. Noch eine Mauer. Wanja drehte sich nach links. Holte Luft. Tastete weiter.
    Mauer, Mauer – Leere.
    Plötzlich machte

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