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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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der Gang eine Biegung. Das Blut pochte Wanja in den Adern, als sie sich langsam um die Ecke schob. Dann blieb sie stehen. Noch immer war es dunkel.
    Aber diese Dunkelheit war anders.
    Sie hatte ein Ende.
    Und dieses Ende riss, wie der Ausgang eines Tunnels, in die tiefe Schwärze ein silbernes Loch.
V ATERBILDER
    A uf dieses Loch ging Wanja nun zu. Dass es sich dabei in Wirklichkeit um eine geöffnete Tür handelte, hatte sie bereits erkannt und ihre zögernden Schritte waren unwillkürlich schneller geworden.
    Die Tür wurde größer, das Licht dahinter heller, und als Wanja nach etwa hundert Schritten im Türrahmen stand, erschien ihr die Kunsthalle plötzlich wie eine weit entfernte Welt. Vor Wanja lag ein riesiger, von Licht durchwehter Saal.
    Fünfzehn, vielleicht zwanzig andere Jugendliche gingen darin umher, sie alle schienen mehr oder weniger in Wanjas Alter zu sein. Auch das Mädchen mit den Afrozöpfen und der schlaksige Junge mit den Segelohren, der in der Kunsthalle an Wanja vorbeigehuscht war, befanden sich unter ihnen – und ganz hinten stand ein älterer Junge in einer schwarzen Jacke, der Wanja irgendwie bekannt vorkam.

    Keiner sprach, alle schienen erfüllt von dem Wunder, in das sie hineingeraten waren.
    Wanja ließ ihren Blick über die glänzenden, holzgetäfelten Dielen gleiten, und als ihre Augen nach oben wanderten, streiften sie eine leuchtende Mondkugel. An einem feinen, kaum sichtbaren Seil hing sie von der kuppelartigen, tiefblauen Decke herab.
    Am anderen Ende des Saales war eine dreistufige Treppe und die Bühne, zu der sie wohl führte, wurde von einem dunkelroten Vorhang verdeckt. Die Fackeln, die rechts und links daneben in gusseisernen Haltern staken, waren angezündet, genau wie die Fackeln an den weißen Steinsäulen der Rundbögen, die den sonderbaren Saal umsäumten. Was auch immer hinter diesen Bögen war, wurde verdeckt von roten Samtstoffen. Geheimnisvoll wie der Vorhang vor der Bühne schimmerten sie im feurigen Schein der Fackeln.
    Als Wanja in den Saal hineintrat, fühlte sie sich wie im Traum. Sogar ihre Bewegungen fühlten sich anders an. Die glänzenden Dielen schienen unter ihren Füßen zu federn, nicht das kleinste Geräusch machten ihre Schritte auf dem hellen Holz.
    Und noch immer sprach keiner einen Ton. Es fühlte sich gut an, nicht zu sprechen, es fühlte sich richtig an. Jedes Wort wäre für diesen Augenblick zu viel gewesen und Wanja war froh, dass es den anderen genauso ging.
    Das Mädchen mit den Afrozöpfen grinste kurz, als sich ihre Wege in der leeren Mitte des Saales kreuzten, und Wanja grinste schüchtern zurück.
    Dann bemerkte sie den Jungen wieder. Er stand mit dem Rücken zu ihr, auf der gegenüberliegenden Seite des Saales, an eine der Säulen gelehnt. Unvermittelt drehte er sich zu ihr um. Eisblaue Augen blitzten Wanja an und ihr stockte der Atem. Das war ja Mischa, der Junge aus ihrer Schule! Er lächelte nicht, er hob nicht die Hand zum Gruß, er verzog keine Miene, sondern sah Wanja nur mit seinem durchdringenden Blick an. Sie starrte zurück, unsicher, ob sie erschrocken oder erleichtert sein sollte ausgerechnet ihm hier zu begegnen.
    Gerade als sie überlegte, ob sie auf ihn zugehen solle, ertönte von der Bühne her ein Gong, so schwer und voll, dass Wanja glaubte den Ton mit Händen greifen zu können.
    Mit einem leisen Rauschen schob sich der Vorhang zur Seite. Dahinter wurde tatsächlich eine Bühne sichtbar. Sie war eingerahmt in einen gewaltigen Bilderrahmen aus schwerem verschnörkeltem Holz.
    Staunend sah Wanja durch den Rahmen auf die Bühne, in deren Mitte ein hoher, schlanker Tisch aus rot gestrichenem Holz stand. Dicht über der Tischplatte hing ein schmiedeeiserner Pinselkopf. Er war das Ende einer schwarzen Eisenstange, die oben an der Bühnendecke befestigt war und die genauso aussah wie die Stange, an der Wanja vor nicht allzu langer Zeit gezogen hatte. Die großen, dicken Kerzen, die jeweils zu dritt vor beiden Seiten des Tisches auf dem Boden standen, waren weiß. Ihre hellen Flammen regten sich nicht.
    Wie gemalt, dachte Wanja, dieses Bühnenbild sieht aus, als hätte es jemand gemalt. Doch es war echt, wie die Frau, die jetzt aus einer schmalen Seitentür auf die Bühne trat.
    Im Saal wurde es noch stiller, als es vorher schon gewesen war. Jede Bewegung stoppte und alle Blicke hefteten sich auf die winzige Frau. Sie hatte die Größe eines vielleicht zehnjährigen Mädchens, doch ihr schneeweißes Haar, das sie zu einem

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