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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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machte er nicht auf. Am dritten Tag lag ein Brief in meinem Briefkasten. Er schrieb, dass er mich liebt und sich auf unser Kind freut, dass er mein Mann und dein Vater sein wollte, aber auf seine Weise.«
Wanja zuckte zusammen, doch Jo beachtete sie gar nicht, sie sprach weiter, als säße sie allein im Zimmer. »Mit deinen Großeltern gab es einen entsetzlichen Streit und deine Großmutter stieß die schlimmsten Drohungen aus, aber was sollten sie schon tun, ich würde das Kind bekommen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wir würden nicht heiraten, noch nicht jedenfalls, das stand ebenfalls fest, ich war inzwischen wie im Trotz gegen meine Eltern mit dieser Meinung ganz auf seiner Seite.
Die Zeit, die jetzt folgte, war die schönste in meinem ganzen Leben. Flora erzählte mir Gruselgeschichten, wie sich Männer veränderten, wenn ihre Freundinnen schwanger wurden, aber er war nicht so, er war anders, ganz anders. Obwohl wir uns auch jetzt nicht täglich sahen und eine gemeinsame Wohnung nicht einmal planten, trug er mich noch mehr auf Händen, als er es zuvor getan hatte. Stundenlang konnte er dasitzen und meinen Bauch streicheln oder ihm beim Wachsen zusehen, wie er immer sagte. Manchmal hat er mit Filzstift ein Kindergesicht auf meinen Bauch gemalt und jedes hatte seine Augen und meine Locken. Einmal fand ich unter seinem Bett eine Spieluhr, es war ein Schäfchen aus Stoff. ›Für unser Kind‹, sagte er und hielt es mir an den Bauch.«
Jo schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Leise fuhr sie fort. »›Die Blümelein, sie schlafen schon längst im Mondenschein.‹ Das war von nun an dein Schlaflied in meinem Bauch. Später, viel später, als wir schon bei Oma und Opa wohnten, hörte ich, wie Oma dir das Lied vorsang, und ich –«
Wanja fiel Jo ins Wort. »Du hast sie furchtbar angeschrieen.« Sie sah die Szene plötzlich wieder ganz genau vor sich. Vier, vielleicht fünf war sie gewesen, sie hatte mit Fieber im Bett gelegen und ihre Großmutter saß an ihrem Bett und sang, als Jo ins Zimmer kam. Wanja wusste nicht mehr, was sie geschrien hatte, erinnerte sich aber, dass ihre Großmutter das Zimmer verließ und sie, Wanja, zu weinen anfing, während Jo vor ihrem Bett stand, sie anstarrte und nicht in den Arm nahm.
»Warum?«, flüsterte Wanja. »Was war denn mit dem Lied?«
Jo ignorierte ihre Frage und fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Wir lebten also weiter wie bisher und mittlerweile machte es mir nichts mehr aus. Ich legte meine Arbeit auf die Tage, an denen wir uns nicht sahen, manchmal arbeitete ich zwei Schichten hintereinander, und er sagte, genauso machte er es auch. So hatten wir uns, wenn wir zusammen waren, Tag und Nacht ohne Unterbrechung und manchmal mit einer Intensität, die mir Angst machte. Um unsere Zukunft machte ich mir allerdings überhaupt keine Sorgen. Mein Studium würde ich verschieben und er würde sich um uns kümmern, irgendwie würde sein Geld schon reichen. Die Hauptsache war, dass er mich liebte und dass er sich auf unser Kind freute. Er schien auch alles zu wissen, was in mir und meinem Körper vor sich ging, und für dieses Wissen liebte ich ihn umso mehr.«
Jo lachte bitter und das Weitersprechen schien ihr Mühe zu machen. »Am 22. September waren wir ein Jahr zusammen. Ich war hochschwanger und abends wollte er mich zum Essen ausführen. Wie im Jahr zuvor schien die Sonne, es war heiß wie im Sommer und ich fühlte mich den ganzen Tag schon wie auf Wolken. Ich ging in dem Park spazieren, in dem wir damals zusammen auf der Wiese gelegen hatten, ich spürte dich in meinem Bauch und fragte mich zum hundertsten Mal, wie ähnlich du ihm sehen würdest.«
Jo atmete scharf aus, während Wanja unwillkürlich die Luft anhielt. »Was dann geschah«, sagte Jo, »geschah gleichzeitig. Du fingst an zu treten, heftig und plötzlich, und ich lachte noch über den unvermittelten Schmerz, als ich ihn sah. Er stand ein paar Meter entfernt unter einem Baum, die Arme weit ausgebreitet. Aber nicht für mich. Mich sah er gar nicht. Sein Blick ging nach unten, auf den kleinen Jungen, der ihm mit stolpernden Schritten entgegenlief. Der Junge hatte blonde Korkenzieherlocken und sah aus wie ein Engel ohne Flügel. Ich wusste sofort, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Auf einem der Bilder, es stand direkt neben dem Bett in seinem Zimmer. Der Junge war auf dem Arm einer Frau, ihre Gesichter waren Wange an Wange, sie strahlten. Ich hatte ihn sogar gefragt, wer die

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