Die geheime Reise
schüttelte das schwarze Gefieder und erhob sich in die Luft, zurück auf die Brüstung der Turmterrasse. Seine Augen waren jetzt schwarz glänzende Vogelaugen, aus denen er Wanja und Mischa fast ein wenig neugierig ansah.
Und dann – endlich drehten sich die Kinder um zu Taro. Er lag noch immer auf dem Boden, aber auch sein Brustkorb fing an sich zu heben und zu senken, erst langsam, dann immer gleichmäßiger. Und dann öffnete er die Augen.
Wanja konnte nichts sagen, auch Mischa sagte nichts, aber sie streckten Taro die Hände entgegen und halfen ihm hoch. Er war unverletzt und sah verwirrt aus. »Ist … er weg?«
Wanja deutete stumm zur Brüstung, auf der sich der schwarze Vogel erhob und davonflog, dem vollen Mond entgegen in die Nacht. Sie hoffte, dass Taro nichts fragen würde, denn sie hätte nicht in Worte fassen können, was geschehen war. Aber Taro nahm die beiden nur fest in den Arm, drückte ihre Köpfe an seine Brust, und als sie sich nach endlosen Minuten voneinander lösten und Wanja zur Tür sah, war Amon verschwunden.
»Wir müssen zurück«, sagte Taro. Mischa nickte. Sein Gesicht war verwandelt, es sah traurig aus und gleichzeitig erlöst.
Als die drei auf Sandeshs Rücken auf die Manege zuritten, kamen ihnen die anderen Artisten entgegen, allen voran Baba, strahlend und mit ausgebreiteten Armen. Der Gong hatte schon geschlagen und die Farben waren zurückgekehrt.
Vor dem Rahmen nahmen sie Abschied von Taro, und als Wanja und Mischa in der Arkade zu sich kamen, hatte Wanjas Fuß aufgehört zu schmerzen und auf Mischas Rücken waren keine Spuren des Kampfes mehr zu sehen.
J OLAN
A ls Wanja die Haustür aufschloss, war es schon dunkel. Paula saß maunzend am Fenster, sie blieb nicht gern allein und schien jedes Mal schon von weitem zu hören, wenn Jo oder Wanja nach Hause kamen. Wanja hatte Paula lieb, aber Schröder vermisste sie immer. Sein sattes Schnurren, seine nasse Nase, seine ganze liebesbedürftige Teddybärenart war so anders gewesen als Paulas verspieltes, viel katzenhafteres Wesen, und Wanja verstand zum ersten Mal, dass man niemanden wirklich ersetzen kann. Paula gehörte jetzt zu ihnen, aber den Platz von Schröder hatte sie nicht eingenommen und genau so, fühlte Wanja, war es auch richtig. Sie gab Paula zu fressen, füllte den Trinknapf mit frischem Wasser und kraulte der kleinen grauen Katze den Nacken. Sie selbst goss sich ein Glas Apfelsaft ein, setzte sich an den Küchentisch und wartete auf Jo.
Als Wanjas Mutter gestern Abend von ihrer Geschäftsreise zurückgekommen war, war sie glänzender Laune gewesen und hatte Wanja auf das, was zuvor geschehen war, nicht mehr angesprochen, hatte keine weiteren Fragen gestellt und sich gegeben, als wäre alles wie immer.
Heute war es Wanja, die ihre Frage stellen würde. Und Jo würde antworten. Es war seltsam, hier zu sitzen und mit einer solchen Klarheit zu wissen, dass es so sein würde, und als Jo zwei Stunden später in die Küche kam, noch in Mantel, Schal und Stiefeln, sah ihr Wanja ruhig in die Augen. Jo runzelte die Stirn, lächelte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder und ging nach oben, um sich umzuziehen. Paula schoss vor ihr her zur Küchentür hinaus. Wanja wartete einige letzte Minuten. Dann stieg auch sie die Treppen nach oben in Jos Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
Jo stand vor dem Spiegel. Sie trug weiße Jogginghosen und ein dunkelgrünes Sweatshirt und war gerade dabei, sich die Haare am Hinterkopf zu einem Knoten festzustecken. Als Wanja einen Schritt auf sie zumachte, hielt Jo in der Bewegung inne und für einen Moment kam es Wanja vor, als erhöbe ihre Mutter die Arme, wie jemand, der von einer Pistole bedroht wird und weiß, dass er sich ergeben muss.
Wanja holte Luft. Ihr Atem kam von tief unten, stieg in ihren Brustkorb, der sich dehnte, und dann höher in ihre Kehle, die jetzt frei von Angst war.
»Ich möchte wissen, was mit meinem Vater war«, sagte sie ruhig.
Jo hatte einen kleinen Reisewecker, er stand auf dem Nachttisch neben ihrem Bett und Wanja hörte ihn ticken, leise und regelmäßig.
Wie in Zeitlupe ließ Jo die Hände sinken und drehte sich zu ihrer Tochter um. Ihre Haare, zu schwer für die wenigen Klammern, die sie erst gesteckt hatte, fielen zurück auf die Schultern und Jos kleine Eichhörnchenaugen irrten durch den Raum, auf der Flucht vor Wanjas festem Blick. Aber er fing sie ein, wieder und wieder, bis Jo die Augen senkte, zu ihrem Bett schlich,
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