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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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sich setzte und auf ihre Hände starrte, die offen in ihrem Schoß lagen. Eine Träne fiel darauf, fast meinte Wanja sie fallen zu hören.
Der Wecker tickte. Lange.
»Ich kam gerade von der Uni«, begann Jo mit einer sehr leisen Stimme. »Es war Freitag, der 22. September, es hatte seit Wochen geregnet, aber an diesem Tag schien die Sonne und es war noch einmal ganz warm geworden. Ich wollte damals studieren und hatte mir Informationsmaterial für Germanistik und Philosophie besorgt. Die Straßen waren voller Menschen, junge und alte, auch viele Studenten, die in Straßencafés saßen und im Univiertel an Tischen und Ständen Bücher und alte Schallplatten verkauften. Vor dem Brunnen spielten Straßenmusiker, davor standen Leute, manche tanzten, andere hörten bloß zu.«
Jos Stimme wurde unmerklich lauter, doch den Kopf hielt sie noch immer gesenkt, sie hob ihn auch nicht, als sich Wanja neben ihr auf dem Bett niederließ.
»Er saß gegenüber vom Brunnen an einer Hauswand«, fuhr sie fort. »Vor ihm war ein Tapeziertisch aufgebaut. Selbst gemalte Bilder lagen darauf und lehnten davor, es waren fast alles Porträts, unglaublich ausdrucksvoll, und hinter dem Tisch stand eine Staffelei mit einem Bild, an dem er gerade malte. Es war die Skizze einer alten Frau, und als ich den Kopf wandte, sah ich ihr Vorbild. Sie stand am Brunnen und fütterte die Tauben, eine kleine, unglaublich zarte Person mit schneeweißen Haaren und sehr blauen Augen. Sie hatte etwas Mädchenhaftes, und als sie zu uns herüberlächelte, hatte ich das Gefühl, dass sie traurig war. Dann wandte sie sich wieder den Tauben zu, während er unablässig weiterzeichnete. Andere Leute kamen an seinem Stand vorbei, manche betrachteten die Bilder, aber die meisten gingen weiter. Nur ich blieb wie angewurzelt stehen, ohne zu wissen, was mich hielt. Ich beobachtete, wie die Skizze entstand und wie er in regelmäßigen Abständen den Kopf hob und zu der alten Frau sah, ohne dabei mit dem Zeichnen aufzuhören.«
Jo schüttelte leicht den Kopf. »Eigentlich war ich mit Flora verabredet. Ich kannte sie erst seit kurzem, sie hatte sich in der Bar, in der ich als Kellnerin jobbte, vorgestellt und bekam die Stelle sofort. Am Anfang mochte ich sie nicht, weil sie jede Woche mit einem anderen Kerl nach Hause ging, aber als sie einem Betrunkenen, der mich belästigen wollte, ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet hat, lud ich sie nach Feierabend in meine Wohnung zum Essen ein. Seitdem sind wir Freundinnen. An diesem Tag wollten wir zusammen auf den Markt und ich hätte sie eigentlich längst abholen sollen. Aber ich konnte mich nicht von der Stelle rühren und plötzlich wusste ich auch, warum.« Jo machte ein schnaubendes Geräusch durch die Nase und feilte mit dem Fingernagel der einen Hand an dem Daumennagel der anderen Hand herum. Wanja saß ganz still und sah ihr dabei zu.
»Ich hatte mir wahrscheinlich eingebildet, es wäre wegen der Bilder«, fuhr Jo fort, »denn er malte wirklich phantastisch und es war faszinierend, ihm dabei zuzusehen. Aber es war nicht wegen der Bilder, und als es mir klar wurde, bekam ich Angst. Das, was ich fühlte, kam viel zu plötzlich und vor allem, es traf mich viel zu tief. Ich hatte so etwas noch nie erlebt und mittlerweile glaube ich, dass es auf der ganzen Welt überhaupt nur sehr wenige Menschen gibt, die das erleben. Ich weiß noch, dass ich völlig verwirrt war, ich wollte weglaufen, ich kannte diesen Mann doch nicht einmal, aber gleichzeitig wünschte ich mir verzweifelt, dass er mich anschaut. Aber er sah mich nicht an. Seelenruhig zeichnete er weiter und ließ mich zappeln wie einen Fisch an der Angel. Denn dass er meine Anwesenheit spürte, war mir völlig klar.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, ich wandte mich zum Gehen, schließlich wartete auch Flora auf mich, doch da drehte er den Kopf in meine Richtung und sah mir direkt in die Augen. Meine Güte«, Jos Finger krampften sich zusammen, »sein Blick hielt mich so fest, dass es mir den Atem verschlug. Eine Viertelstunde später saßen wir im Café, der Besitzer kannte ihn, offensichtlich stellte er dort immer seine Bilder ab. Als es draußen dunkel wurde, saßen wir noch immer dort, und als die Sonne aufging, standen wir vor meiner Haustür. Wir waren durch die Stadt gelaufen, den ganzen Weg vom Univiertel bis zum Stadtpark, wo wir uns auf eine Wiese legten, die Arme hinter dem Nacken verschränkten, uns Geschichten erzählten und Sternbilder suchten. Es waren

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