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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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lauter brüllte und er nur dastand, hilflos, aber immer noch mit einer Ruhe, für die ich ihn plötzlich hasste. Ich drehte mich um und lief davon, so schnell ich mit meinen zitternden Beinen und dem dicken Bauch konnte. Auf der Straße stürzte ich und fiel hin, auf den Bauch. Ein junger Mann half mir hoch und brachte mich nach Hause. Zum Arzt ging ich nicht. Am nächsten Tag platzte die Fruchtblase, den Rest kennst du. Er selbst kam nicht. Er kam nicht ins Krankenhaus, er kam nicht zu uns nach Hause und ins Café kam er auch nicht.«
Wanja senkte den Kopf. Sie dachte an den Tag, als Jo ihr von ihrer Geburt erzählt hatte, an ihr düsteres Gesicht, als sie davon sprach, wie die Fruchtblase geplatzt war, und an ihren Ausbruch danach, als Wanja nach ihrem Vater fragte. Jetzt wusste sie, warum, und plötzlich war ihr kalt. Jo starrte ins Leere, während sie weitersprach.
»Zwei Monate später ging ich dann doch zu ihm. Flora drängte mich dazu, wie auf eine Kranke redete sie auf mich ein. Meine Wohnung hatte ich bereits aufgegeben, die wenigen Möbel, die ich besaß, waren auf Floras Dachboden und in ihrer Wohnung verbrachten wir die letzten Tage vor unserer Abreise. In zwei Stunden ging mein Zug nach München, wo ich mit dir die nächsten Jahre leben würde, bei deinen Großeltern. Ich hatte dich in meinem Tragetuch um die Seite gebunden, nur dein schwarzer Lockenkopf schaute heraus.« Jo schüttelte den Kopf und stieß den Atem aus. »Meine Locken und seine Augen, ja, die hast du bekommen. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen wollte, ich wusste nicht, was ich hören wollte, ich wusste nicht einmal, ob ich bei ihm klingeln wollte. Aber als ich vor seiner Tür stand, war sein Name am Klingelschild verschwunden. Eine Woche später kam ein Brief. Per Nachsendeantrag und ohne Absender. Er schrieb, dass es ihm Leid tat, nur diesen einen, jämmerlich abgedroschenen Satz. Danach habe ich nie wieder von ihm gehört. An deinem dreizehnten Geburtstag kam der nächste Brief. Und jetzt, Silvester, hat er angerufen. Das war alles. Das war die ganze Geschichte.«
Jo ließ den Kopf in ihre Hände sinken, hob ihn aber noch einmal und sah über ihre Fingerspitzen hinweg aus dem Fenster. »Vielleicht hast du gedacht, dein Vater hätte mindestens jemanden umgebracht. Aber auf eine Weise hat er genau das getan. Er hat mein Vertrauen getötet. Ich habe ihm mit meinem ganzen Herzen vertraut und er hat alles zerstört.«
Wanja starrte auf die kleinen Schweine, mit denen Jos Bettdecke übersät war. Kleine rosa Schweine auf blauem Untergrund. Dreizehn Jahre lang hatte ihr Vater nichts von sich hören lassen. Nachdem sie die Briefe gelesen hatte, glaubte sie, ihr Vater hätte alles versucht, um mit Jo über was auch immer geschehen war zu reden und Jo hätte ihn nicht an sich herangelassen. Stattdessen hatte er es nicht einmal versucht.
»Meinst du, er ist bei der anderen Frau geblieben?«, fragte Wanja kaum hörbar. Jo zuckte die Schultern, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich glaube, er ist vor uns beiden weggelaufen.«
»Und dass er dich geliebt hat? Dass er …«, Wanja schluckte, »… sich auf mich gefreut hat? Glaubst du, das war alles gelogen?«
Wieder schüttelte Jo den Kopf. »Nein, ich glaube, das war echt. Er hat mich geliebt und er hat sich auf dich gefreut. Auf seine Weise ganz bestimmt. Aber nicht auf meine, weiß Gott. Nicht auf meine.«
Jetzt, zum ersten Mal, seit sie hier im Zimmer saßen, sah Jo Wanja an. Ihre Augen waren ruhig, ruhig und tieftraurig, aber gleichzeitig erlöst. »Es tut mir so Leid, Wanja«, flüsterte sie. »Es muss schrecklich für dich gewesen sein, all die Jahre nichts zu wissen. Aber ich konnte einfach nicht darüber sprechen. Und wenn du mich vorhin nicht mit dieser Klarheit dazu aufgefordert hättest, weiß ich nicht, ob ich es jemals getan hätte. Ich habe mir immer gewünscht, dein Vater wäre tot. Aber er ist es nicht. Er lebt, und ich denke, es wird Zeit, dass du ihn kennen lernst.«
Wanja rührte sich nicht. Sie dachte an ihren Geburtstag, an ihre furchtbare Angst, ihr Vater könnte tot sein, aber trotzdem hatte sie nicht gewagt, weiterzufragen. Nicht Jo und nicht ihre Großmutter. Jetzt kam ihr auch der Traum von neulich nachts wieder in den Sinn, die drei Frauen in ihrem Türrahmen, und dann Uri, ihr zuckender Finger, als Wanja ihr aus Dostojewskis Buch vorgelesen hatte.
»Kannte Uri Jolan eigentlich?«, fragte sie Jo.
Wanjas Mutter lächelte. »Als wir damals bei deinen

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